„Verkalkuliert“
Ex-US-Außenminister Kissinger rechnet mit Putin ab
Die lebende Außenminister-Legende Henry Kissinger hat bei einer kürzlich stattgefundenen Veranstaltung über den vom Westen gekränkten Kremlchef Wladimir Putin gesprochen. Seine Analyse wurde zu einer Abrechnung mit dem russischen Präsidenten. Kissinger-Erbin und Präsidentenberaterin Fiona Hill betont: Auch der Westen machte Fehler.
Er heißt kurz „Orakel“, „Urgestein“ oder „Lebende Legende“: Henry Kissinger ist seit Freitag 99 Jahre alt und top-agil. Politik hält ihn fit. Der frühere US-Außenminister („Nixon in China“) und Weltstratege veröffentlicht demnächst sein neues Buch „Staatskunst“. In diesem Alterswerk erteilt er uns „Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“, so der Untertitel. Bei einer Veranstaltung der „Financial Times“ kürzlich in Washington wurde Kissinger über seine Einschätzung zu den aktuellen Ereignissen befragt. Der Außenpolitik-Doyen, der den Kremlchef so gut wie jedes Jahr getroffen hat, stimmt darin überein, dass sich Putin gründlich verrechnet hat.
Warum? „Ich glaube, seine Grundüberzeugung wurzelt in einer Art mystischen Glaubens an die russische Geschichte, wie er sie versteht, und dass er sich gemessen daran gekränkt fühlt, nicht notwendigerweise wegen irgendetwas, was wir getan haben, sondern wegen dieser gewaltigen Kluft, die sich zwischen dem Westen und dem Osten auftut.“
Putin, so Kissinger, fühlte sich von der NATO-Osterweiterung bedroht: „Das entschuldigt aber nicht den von mir nicht erwarteten Angriff in dieser Dimension auf ein international anerkanntes Land. Putin verrechnete sich in den Möglichkeiten, die er international hat. Er verrechnete sich offenkundig auch in den Möglichkeiten, die Russland hat.“
Wann und wie hört Putin mit dem Krieg auf? Kissinger: „Die offenkundige Frage ist, wie lange diese Eskalation fortgesetzt wird und wie viele Mittel ihm zur Verfügung stehen oder ob er bereits die Grenze seiner Möglichkeiten erreicht hat. Er muss entscheiden, wann dieser Punkt erreicht ist, dass in der näheren Zukunft die Rolle seines Landes als Großmacht in der internationalen Politik nicht mehr aufrechterhalten werden kann.“
Kissinger warnt vor „zerstörerischen Waffen“
Kissinger glaubt nicht, dass Putin atomare Waffen einsetzen werde, aber: „Durch die rasante Beschleunigung und die Raffinesse der Technologie sind Waffen möglich geworden, deren Zerstörungskraft bisher nicht vorstellbar gewesen ist. Und der befremdliche Gesichtspunkt unserer Zeit ist, dass sich diese Waffen auf beiden Seiten vervielfachen und sich ihre Möglichkeiten jedes Jahr ausweiten. Bisher gibt es allerdings auf internationaler Ebene keinerlei Debatte darüber, was passieren würde, wenn diese Waffen angewandt würden.“
Kissinger schließt: „Mein Appell ganz allgemein ist, egal, auf welcher Seite Sie stehen: Versteht, dass wir in einer ganz neuen Ära leben, und dass wir uns bisher kaum darum gekümmert haben. Aber während die Techniken sich weltweit verbreiten, was notwendigerweise passiert, müssen sich Diplomatie und Kriegsführung neu aufstellen - und das wird eine Herausforderung.“
So spricht der Jahrhundert-Diplomat. Er hat in Washington eine kongeniale Nachfolgerin gefunden: Fiona Hill, Präsidentenberaterin, langjährige Spitzenbeamtin im Nationalen Sicherheitsrat der USA sowie weltweit anerkannte Russland-Spezialistin.
„Putin ist niemand, der blufft“
„Putin ist niemand, der blufft“, fasst Hill in der Zeitschrift „Internationale Politik“ ihre Russland-Erfahrungen zusammen. „Schon sein bisheriges Verhalten deutet darauf hin, dass er dazu bereit ist, drastische Maßnahmen zu ergreifen, wenn er es für notwendig hält.“ Sie hält dem Kremlchef eine Sündenliste vor: „Die Invasion in Georgien 2008, die Ermordung des Ex-Agenten Alexander Litwinenko in London zwei Jahre zuvor, das Nowitschok-Attentat in Salisbury 2018: Die Liste von Putins Grenzüberschreitungen ist lang und zeigt, dass er vor nichts zurückschreckt.“
Hill geht weit in die Vergangenheit: „Das reicht bis zum Zweiten Tschetschenienkrieg 1999/2000 zurück. Es wird so oft vergessen, dass Putin sein Amt als Präsident in Kriegszeiten antrat. Damals waren in russischen Städten Wohnhäuser in die Luft gesprengt worden, angeblich von tschetschenischen Terroristen, es gibt jedoch Indizien, dass der FSB (Nachfolger des KGB) dahintersteckt (um einen Krieg gegen Tschetschenien zu rechtfertigen). Russische Streitkräfte machten dann die Tschetschenien-Hauptstadt Grosny dem Erdboden gleich und töteten eine Vielzahl von Zivilisten, von denen die meisten Slawen und russisch sprechende Menschen waren - unter ihnen Frauen und Kinder -, denn Grosny war eigentlich eine russische Stadt. Wozu Putin fähig ist, haben wir also vom Beginn seiner Amtszeit an gesehen“, rekapituliert die US-Spitzendiplomatin in der Zeitschrift „Internationale Politik“.
NATO-Angebot an Ukraine war strategischer Fehler
War die NATO-Osterweiterung der Kriegsgrund oder ein Vorwand? Hill: „Nicht Vorwand, aber auch nicht die einzige Antwort zum Krieg. Zur Klarstellung: Ich halte das Angebot zum NATO-Beitritt der Ukraine 2008 als strategischen Fehler von Präsident Bush gegen alle Ratgeber. Es hätte niemals auf den Tisch kommen dürfen, denn es war ohnehin nicht realisierbar - und wie wir sehen, die schlechteste aller Lösungen. Für Putin ist die NATO ein aggressives Bündnis, spätestens als sie Belgrad bombardierte.“
Hill weiter: „Über die Jahre hat sich Putins rückwärtsgewandte Sichtweise der russischen Position in Europa immer weiter verdüstert. Er hat aufgerüstet. Aus Putins Sicht geht es um die Zusammenführung der Länder, die einst Teil des Russischen Reiches waren. Mittlerweile ist klar, dass sich Putin als Verkörperung des russischen Staates sieht. Es ist diese Besessenheit, die uns an den Punkt geführt hat, an dem wir heute stehen. Es geht also nicht nur um die NATO, es geht um Putins Auffassung davon, welcher Platz Russland in Europa zusteht. Er hat oft gesagt, dass er eine Anerkennung der Tatsache erwarte, dass Russland ,ein außergewöhnlicher Staat‘ sei. Deshalb hat er sich auch oft gegen das amerikanische Gefühl des Exzeptionalismus gewehrt und gesagt: ,Außergewöhnlich sind wir auch.‘“
Wie wird das Ganze ausgehen? Die Russland-Expertin meint: „Es kann sein, dass Putin weiß, dass er sich verkalkuliert hat. Er glaubt, dass er seinen langfristigen Plan trotzdem durchziehen kann. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass der anfängliche Blitzkrieg sich bald in einen viel grausameren und barbarischen Angriff verwandelt hat.“ Fazit der US-Präsidentenberaterin: „Die russische Führung hat eine furchtbare Situation geschaffen, und Russland wird international auf absehbare Zeit als Schurkenstaat gelten.“
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