Militärexperte:

„Situation in Ostukraine zunehmend düsterer“

Ausland
01.06.2022 08:36

Mit der Lieferung von modernen Mehrfachraketenwerfern, mit denen Ziele genauer getroffen werden können, wollen die USA der ukrainischen Armee eine mächtige Waffe in die Hand geben, um die russischen Truppen zurückzudrängen. Die Entscheidung ist umstritten, befürchtet man doch Vergeltungsschläge der Russen, sollten mit diesen Waffen Ziele auch auf russischem Territorium getroffen werden. Für den österreichischen Militärexperten Oberst Michael Reisner sind die Mehrfachraketenwerfer aber „die einzige Möglichkeit, die Russen zurückzuschlagen“. Denn: „Die Situation wird für die Ukrainer im Osten des Landes zunehmend düsterer.“

10.000 bis 12.000 ukrainischen Soldaten droht die Einkesselung in einem Raum von 40 mal 40 Kilometern zwischen Lyman, Artemisk, Popsana und Sjewjerodonezk, so der Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie. „Es fehlen nur mehr 20 Kilometer, und die Russen können den Kessel schließen.“ Das könnte in den kommenden Wochen tatsächlich passieren.

Sowohl der britische Geheimdienst, der laufend die Situation an der Front anhand vorhandener Informationen öffentlich analysiert, als auch das US-Verteidigungsministerium räumen mittlerweile ein, dass die russischen Streitkräfte im Osten der Ukraine stetig voranschreiten.

Die seit Wochen heftig umkämpfte Stadt Sjewjerodonezk ist weitgehend unter russischer Kontrolle. (Bild: APA/AFP/ARIS MESSINIS)
Die seit Wochen heftig umkämpfte Stadt Sjewjerodonezk ist weitgehend unter russischer Kontrolle.

Ukrainische Soldaten klagen über fehlende Waffen
Aus dem umkämpfen Gebiet tauchen immer mehr Videos von ukrainischen Einheiten auf, die sich an ihre Vorgesetzten oder an Präsident Wolodymyr Selenskyj wenden und über fehlende Waffen und Munition klagen und sich darüber beschweren, dass sie nicht ausreichend ausgebildet seien für den Kampf. Es gibt laut Reisner bereits mindestens 13 solcher Videos. Einige dieser Soldaten wurden laut ihren Aussagen in den Videos aus dem Westen des Landes in den umkämpften Osten verlegt und waren auf den heftigen Artilleriebeschuss nicht vorbereitet.

Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung an der Militärakademie in Wiener Neustadt (Bild: Bundesheer/Kurt Kreibich)
Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung an der Militärakademie in Wiener Neustadt

Zu glauben, dass den Russen die Munition ausgehen könnte, wäre illusorisch, warnt der Bundesheeroffizier vor falschen Meldungen in den sozialen Medien. Die Russen hätten Hunderttausende Geschosse sogenannter ungelenkter Bomben und Raketen. Wie viele gelenkte Raketen, wie etwa Marschflugkörper oder ballistische Raketen, sie noch haben, ist unbekannt. Verschossen wurden bisher über 2200. Das sollen rund 60 Prozent des gesamten russischen Arsenals sein. Aber auch die ungelenkten Raketen haben ausreichend Wirkung.

Putins „Höllenmaschine“ und die neue Phase des Krieges
Reisner weist auf thermobarischen Raketen des Mehrfachraketenwerfers TOS-1 (siehe Bild unten) hin. Dieses Waffensystem wird „Putins Höllenmaschine“ genannt. Wo ein solcher thermobarer Sprengkopf einschlägt, herrscht im Umkreis von 25 Metern für eineinhalb Sekunden Temperaturen von 1400 Grad Celsius. Die Luft brennt. Es entsteht ein extreme Druckwelle. Das halte kein Körper aus, so der Experte.

Ein TOS-1-Raketenwerfer bei einer Übung: Mit knapp vier Kilometern Reichweite ist diese Waffe eine tödliche Ergänzung zu Panzerverbänden. (Bild: EPA)
Ein TOS-1-Raketenwerfer bei einer Übung: Mit knapp vier Kilometern Reichweite ist diese Waffe eine tödliche Ergänzung zu Panzerverbänden.
Prorussisches Artilleriestellung in der ostukrainischen Stadt Panteleimonivka (Bild: AP)
Prorussisches Artilleriestellung in der ostukrainischen Stadt Panteleimonivka

Nun „dritte Phase“ des Krieges
Zusammenfassend sieht Reisner den Krieg in eine neue Phase übergegen. Die erste Phase dauerte sechs von mittlerweile 14 Wochen. Sie war geprägt vom Großangriff des 24. Februar, auch auf die Hauptstadt Kiew, den die Ukrainer abgewehrt haben. In der zweiten Phase zog sich Russland im Norden zurück und konzentrierte sich auf den Donbass im Osten. Vergangenes Wochenende begann nach Einschätzung Reisners eine neue, dritte Phase.

„Die Russen haben zumindest lokal wieder die Initiative.“ Die Ukrainer hätten sich im Donbass eingegraben und würde ihre Stellungen tapfer und zäh verteidigen. Aber die russische Artillerie zermürbe sie: „Russland schießt eine nach der anderen ukrainischen Frontstellung sturmreif“, sagt der Historiker. Und sie hätten eine von zwei Versorgungsrouten der Ukrainer gekappt.

Russen kontrollieren „Straße des Lebens“
Die russischen Truppen haben die Kontrolle über die wichtige Autobahn T1302 (von den Ukrainern die „Straße des Lebens“ genannt), die die Zwillingsstädte Sjewjerodonezk und Lysychansk im Oblast Luhansk mit dem Oblast Donezk verbindet, übernommen. Zwar konnten die Russen noch einmal zurückgedrängt werden, ihre Artillerie wirke jedoch auf die Straße und mache jede Bewegung unmöglich.

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