Pandemie, Krieg und die höchste Inflationsrate seit den Achtziger Jahren. Immer mehr Menschen schlittern in die Armut, während Milliardäre noch reicher werden. Ein Pfingstgespräch mit Caritas-Präsident Michael Landau - über Gier und Achtsamkeit, seinen Appell an die Regierung und die Schwierigkeit, Mut und Hoffnung zu bewahren.
Im großen Garten des Kardinal-König-Hauses in Wien-Lainz ist ein Tisch gedeckt. Weißes Tuch, Ringelblumen, ein Krug mit kaltem Wasser. Michael Landau sitzt unter einem Birnbaum, über sein Kollar kriecht ein kleiner Käfer, dem er den Weg zurück in die Wiese ermöglicht. Vor unserem Interview hält der Caritas-Präsident noch kurz in der kleinen Kapelle mit dem feuerroten Gemälde an der Wand inne. „Kardinal König stand immer für eine Kirche, die hinhört und hinausgeht“, sagt er. „Draußen“ hat sich die Zahl der Menschen, für die es immer enger wird, dramatisch erhöht.
„Krone“: Vizekanzler Werner Kogler hat der Opposition und den Medien vorgeworfen, hinsichtlich der Teuerungswelle „eine Hysterie anzuzünden“. Was haben Sie sich gedacht?
Michael Landau: Ich bin froh, dass der Vizekanzler das in der Zwischenzeit klargestellt hat. Mir ist der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck stärker im Gedächtnis geblieben. Er hat gesagt: „Wir werden alle ärmer werden.“ Dem würde ich zuversichtlicher entgegensetzen: „Wir werden teilen müssen.“ Und das geht! Es ist genug für alle da, aber nicht für jedermanns Gier.
Viele Menschen können sich das Leben seit der Teuerungswelle nicht mehr leisten. Wie schlimm ist die Situation?
Wir sehen in unseren Sozialberatungsstellen, etwa in Wien, einen Zuwachs von rund 30 Prozent im ersten Quartal des heurigen Jahres. In anderen Bundesländern sind die Zahlen ähnlich. Es kommen Menschen zu uns, die nie gedacht hätten, dass sie eines Tages Unterstützung der Caritas brauchen. Das gleiche Bild zeigt sich bei den Lebensmittelausgaben. Während wir im Vorjahr etwa 17 Tonnen pro Woche ausgegeben haben, sind es jetzt bereits 24 Tonnen. Viele Menschen geraten angesichts von Rekordinflation und Teuerungswelle in Not. Da ist der Politik durch Einmalzahlungen einiges gelungen, aber das kann eine strukturelle Lösung nicht ersetzen.
Welche strukturelle Lösung könnte das sein?
Wir brauchen jetzt einen Rettungsschirm gegen die Armut. Zum einen sehr rasche Maßnahmen, wie die Erhöhung der Mindestpensionen, der Familienbeihilfe und des Pflegegeldes. Mein Appell an die Bundesregierung ist, mit 1. Juli einen einmaligen Ausgleich zu machen, der die Menschen entlastet und dann die zweite Jahreshälfte für eine strukturelle Veränderung zu nützen. Dabei sind zwei Dinge zentral: Zum einen die Sozialhilfe Neu und zum anderen der Familienbonus. Bei der Sozialhilfe Neu sehen wir, dass Familien damit nicht mehr über die Runden kommen. Da brauchen wir eine grundlegende Reform in Richtung einer echten Mindestsicherung. Auch der Familienbonus, so wie er heute ausgestaltet ist, erreicht die Familien, die ihn am dringendsten brauchen, am wenigsten. Unsere Idee wäre, den Familienbonus und die Familienbeihilfe zu einer Kindergrundsicherung zusammenzuführen. Kinder sind ganz häufig Hauptbetroffene in Krisen. Die Bundesregierung hat sich ja auch das Ziel gesteckt, die Kinderarmut deutlich zu reduzieren. Ich habe den Eindruck, dass dieses Ziel zurzeit nicht einmal halbherzig verfolgt wird.
Ist die Caritas beim Schnüren der sogenannten „Anti-Teuerungs-Pakete“ dabei?
Das ist unterschiedlich. Wir bringen unsere Wahrnehmungen immer wieder ein. Aber ich habe manchmal den Eindruck, dass zwischen Bund und Ländern nicht jene Entschiedenheit an den Tag gelegt wird, die notwendig ist. Ich erinnere daran, mit welcher Entschiedenheit die Wirtschaft in der akuten Corona-Krise unterstützt worden ist. Der damalige Finanzminister meinte: „Koste es, was es wolle.“ Die gleiche Energie erwarte ich mir, wenn es darum geht, Armut zu bekämpfen.
Haben Sie das dem Bundeskanzler gesagt?
Wir sind im Gespräch. Es ist eine gute Caritas-Tradition, beharrlich zu sein, nicht wegzuschauen. Das Auseinanderwachsen in unserer Gesellschaft ist etwas, was niemand übersehen kann.
Gab es auch Kontakte zum neuen Sozialminister?
Mehrfach. Er hat ja betont, dass er nicht nur Gesundheits-, sondern bewusst auch Sozialminister sein will und wir werden ihn beim Wort nehmen. Es wird sicher noch den einen oder anderen vertieften Austausch geben. Ich habe durchaus den Eindruck, dass sich die Bundesregierung derzeit bemüht, weiterzukommen. Aber diese Bemühungen müssen noch ein ganzes Stück entschiedener werden.
Und wer soll diese Bemühungen bezahlen? Sollte man zum Beispiel eine freiwillige Solidarabgabe, etwa von den fünf Prozent der Reichsten an die fünf Prozent der Ärmsten, diskutieren?
Als Caritas sind wir Armutsexperten, nicht Steuerexperten. Aber klar ist, dass die Zahl der Dollar-Millionäre weltweit, aber auch der Euro-Millionäre, deutlich gestiegen ist. Gleichzeitig wissen Menschen nicht, wie sie den Alltag bewältigen können. Diese Gerechtigkeitsdebatte muss auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene wesentlich mutiger geführt werden. Die Frage wird sein: Wie können wir die Aufgaben, die jetzt anstehen, in einer fairen Weise bewältigen?
Was ist Ihre Antwort?
Das eigene Glück kann niemals am Glück der anderen vorbei entworfen werden. Letztlich geht es uns nur dann gut, wenn es auch den anderen gut geht.
Das klingt schön, aber kümmert das die Millionäre?
Ich erinnere daran, dass es immer wieder Menschen gab wie zum Beispiel Andreas Treichl, die das von sich aus gesagt haben, dass sie einen größeren Beitrag leisten könnten. Viele Millionäre sind auch sozial engagiert. Also es gibt diese Kultur des Teilens. Aber für strukturelle Probleme braucht es auch strukturelle Lösungen. Und ich sage ganz offen: Solange Milliarden-Unternehmen in Österreich und in Europa praktisch legal keine Steuern zahlen, möchte ich nicht darüber diskutieren müssen, ob jene, die wenig haben, den Gürtel noch enger schnallen können. Da ist nämlich kein Loch mehr im Gürtel übrig. Im Zweiten Vatikanischen Konzil heißt es: „Man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist.“
Macht Sie das manchmal wütend?
Ja. Ungerechtigkeit macht natürlich wütend. Gleichzeitig kommen wir mit Neiddebatten nicht weiter. Weder am oberen, noch am unteren Rand der Gesellschaft. Wir dürfen uns nur niemals mit der Not abfinden, das ist ein wichtiger Auftrag der Caritas. Ihr Gründer, Prälat Leopold Ungar hat gesagt: „Christus hat die Kirche nicht zum Ja-Sagen gestiftet, sondern als Zeichen des Widerspruchs.“
Verschärft der Ukraine-Krieg mit der damit verbundenen Teuerung und den Flüchtlingen die Stimmung in der Gesellschaft?
Wir haben mit der Hilfe der Bevölkerung mittlerweile 1,5 Millionen Menschen in der Ukraine und den Nachbarländern erreicht. Trotz der schwierigen Situation gibt es noch immer eine enorme Solidarität in Österreich. Alleine bei unserer Plattform „Füreinand“ sind 40.000 Menschen registriert, die helfen. Also: Der Grundwasserspiegel der Nächstenliebe ist nach wie vor hoch. Aber natürlich verschärft der andauernde Krieg vor allem auf internationaler Ebene die Probleme. Wenn die Getreideexporte aus der Ukraine und aus Russland in Richtung Afrika zum Erliegen kommen, dann droht uns dort eine dramatische Hungersnot. Auch im Südsudan, in Senegal und Äthiopien sind die Menschen von diesen Importen abhängig. Wenn es zu Blockaden kommt, dann wird es auch zu Unruhen kommen. Deshalb der Appell: Getreide darf nicht als Waffe verwendet werden!
Wenn man derzeit durch die Städte geht, hat man das Gefühl, es gibt zwei Welten. Auf der einen Seite der Wohlstand und Luxus, auf der anderen Seite die Schlangen vor den Sozialmärkten. Denken Sie sich nicht manchmal: In welcher Welt leben wir eigentlich?
Das ist ein gutes Bild. Die Gefahr, dass diese Schere immer weiter auseinandergeht, besteht. Ich denke, dass es uns bei allen Schwierigkeiten nur miteinander gut gehen kann. Deshalb sind wir gut beraten, den Blick für die Not nicht zu verlieren, zusammenzustehen, anzupacken und auf die Ärmsten nicht zu vergessen. Es geht um diese Grundmelodie von Zusammenhalt und Zuversicht. Das zeichnet uns als Menschen aus, egal auf welcher Seite wir stehen.
Zweifacher Caritas-Präsident
Geboren am 23. Mai 1960 als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter in Wien; sein jüngerer Bruder Daniel ist Lehrer. Landau studiert zunächst Biochemie, später Theologie und Kirchenrecht in Rom. Mit 20 lässt er sich taufen, mit 32 wird er in Rom zum Priester geweiht. 1995 wird er Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien, 2013 auch Präsident der Caritas Österreich und seit 2020 Präsident der Caritas Europa. Landau ist auch Seelsorger im „St. Klemens-Haus“, einem Senioren- und Pflegehaus der Caritas in Wien.
Was hat Sie zuletzt berührt?
Die Begegnung mit einer 84-jährigen Frau, die ihre Begräbniskostenversicherung stornieren musste, weil sie die Rate von 30 Euro dringend für Lebensmittel braucht. Und ein Pensionist, der sein ganzes Leben gespart hat und das Geld am Ende der Caritas, also für Menschen in Not, gespendet hat.
Aktuell feiern wir Pfingsten. Haben Sie eine Erklärung, wer oder was der heilige Geist sein soll?
Für mich ist Pfingsten ein Fest der Hoffnung und des Mutes. Gott will uns nicht klein und ängstlich und geknickt, sondern aufrecht und stark. So können wir die Gegenwart und Zukunft gestalten. Zugegeben, es ist heute manchmal schwierig, Mut und Hoffnung zu bewahren, aber das ist die Zeit, die uns anvertraut ist und diese Zeit sollen wir nützen und gestalten.
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