Politischer Dauerfrust

Frankreich wählt: Macron in Alarmbereitschaft

Ausland
11.06.2022 06:00

Am Sonntag findet in Frankreich die Parlamentswahl statt. Linksaußen-Populist Jean-Luc Mélenchon will Regierungschef werden. Präsident Emmanuel Macron selbst hat ein Legitimitätsproblem: 78 Prozent hatten ihn nicht gewählt.

Macron blickt mit Sorge auf die sonntägige Parlamentswahl, die nach jeder Präsidentschaftswahl fällig wird. Im Präsidentenlager läuten seit den letzten Umfragen die Alarmglocken: Nicht die Rechtsaußen Marine Le Pen hat sich als die eigentliche „Gefahr“ entpuppt, sondern der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon (70), ein Polit-Veteran, Gründer der Partei der „Unbeugsamen“ und bei der Präsidentschaftswahl mit immerhin 22 Prozent auf dem undankbaren dritten Platz gelandet.

Melenchon zimmerte linkes Bündnis zusammen
Jetzt will er Macron zwingen, ihn zum Ministerpräsidenten zu ernennen, wenn er eine Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Mélenchon ist es gelungen, ein breites linkes Bündnis zusammenzuzimmern. Eine solche „Cohabitation“, eine Zwangs-Koalition französischer Art, hatte es das letzte Mal 1997 gegeben. Es steht zu befürchten, dass sich dann Präsident und Premier gegenseitig blockieren. Das wäre das Letzte, was Frankreich in seiner jetzigen Lage bräuchte: eine politische Dauerkrise, eine Eiszeit im Élysée.

Linksaußen-Kandidat Jean-Luc Mélenchon (Bild: AFP)
Linksaußen-Kandidat Jean-Luc Mélenchon

Politischer Dauerfrust seit vielen Jahren in Frankreich
Macron droht Ungemach, denn Mélenchon ist ein Linksaußen-Populist, der aus dem radikalkommunistischen Lager kommt. Kompromisspolitik ist dem Radikalinski unbekannt. Der Weg in die befürchtete Sackgasse hat sich bei der Präsidentenwahl abgezeichnet. Präsident Macron hat ein Legitimitätsproblem. 78,07 Prozent haben ihn nicht gewählt: 41,46 Prozent hatten in der Stichwahl für Marine Le Pen gestimmt, 28,01 Prozent blieben zu Hause, 8,6 Prozent gaben bewusst eine ungültige Stimme ab.

Wenn das Wahlvolk bei nun schon drei Präsidentschaftswahlen genötigt wird, sich für einen Präsidenten zu entscheiden, den es eigentlich nicht unbedingt will, nur um den Gegenkandidaten oder die rechtsextreme Kandidatin zu verhindern, und wenn dabei Parteien der Mitte zerrieben werden, hat das Wahlsystem versagt. Die Legitimitätskrise ist eine Ursache für den Dauerfrust, von dem Frankreich seit Jahren geplagt wird. Das zehrt an der Substanz der Demokratie und fördert spontane Aufstände wie jenen der Gelbwesten. So etwas kann jederzeit wieder kommen.

Marine Le Pen (Bild: DENIS CHARLET/AFP)
Marine Le Pen

Zugegeben: Auch wir in Österreich hatten eine solche Nötigung bei der letzten Bundespräsidentenwahl. Auch hier hieß es im Wahlkampf, „den anderen zu verhindern“. Aber es bleibt zu hoffen, dass es sich doch nur um einen systemischen Ausnahmefall gehandelt hat.

Frankreich braucht Wahlrechtsreform
Frankreich braucht dringend eine Wahlrechtsreform. Das jetzige System der Fünften Republik war eingeführt worden, weil die Vierte Republik an ihrem Parteienchaos und ihren Regierungsstürzen scheiterte. Der als Retter an die Staatsspitze gerufene Kriegsheld General De Gaulle verordnete der französischen Politik eine Schlankheitskur, denn: „Wie kann man sonst ein Land regieren, das 246 Käsesorten hat.“

Der Hintergedanke: Vor die Zwangslage gestellt, würde sich die Mehrheit nie für Extremisten entscheiden. Damals waren die Extremisten und Systemgegner die Kommunisten. Sie hatten schon 27 Prozent im Parlament (Die Nationale Front der beiden Le Pen wurde groß, als die Kommunisten schwach wurden: Wut-Bürger allemal). Marine Le Pen war Emmanuel Macron jetzt doch (relativ) gefährlich geworden, weil sie sich weichgespült hatte und so den Eindruck des Extremismus verwischte.

General De Gaulle hatte sich und seine Nachfolger (per Referendum) mit einer ungeheuren Machtfülle ausgestattet, um Stabilität sicherzustellen. Als einmal Königin Juliane Präsident De Gaulle einen Staatsbesuch abstattete, schrieb eine Zeitung in Amsterdam: „Die Präsidentin der Niederlande reist zum König von Frankreich.“

De Gaulle verwechselte Staat mit Kasernenhof
Mit der Stabilität ist es so eine Sache. Sie kann auch kontraproduktiv sein. General De Gaulle verwechselte in seinen alten Tagen Frankreich mit einem Kasernenhof. Im „Mai 1968“ (Revolte der Studenten, Generalstreik der Arbeiter) war er am Ende seines Lateins angelangt. 1969 trat er beleidigt zurück, als er sein mutwilliges Referendum („Ich oder das Chaos“) verlor. 1981 kam über dieses Wahlsystem, das er immer verurteilt hatte, doch ein (angeblicher) Sozialist in das höchste Amt: François Mitterrand - ohne dass der Himmel einstürzte. Seine Amtszeit von zwei Mal 7 Jahren waren, so sagen manche, die letzten „guten Jahre“ Frankreichs. Danach wurde die Notwendigkeit des „Wind of Change“ in Frankreich nicht wirklich erkannt.

Reformstau
Macron ahnt die Notwendigkeit, das Wahlsystem zu lockern. Er kann sich das leisten: Eine dritte Amtszeit gibt es nicht. Frankreich leidet an einem Reformstau, welchen der Präsident in all seiner Einsamkeit auch mit noch so großer Machtfülle nicht lösen kann. Nur eine Verstärkung der demokratischen Teilhabe kann den Frust entschärfen.

Das Wahlsystem muss durchlüftet werden, da es nicht mehr zeitgemäß ist. Der Präsident muss seine Macht beschneiden, der Demokratie zuliebe! „Jupiter“, so sein Eigenprofil, muss vom göttlichen Thron herabsteigen - nicht nur in den paar Wochen des Wahlkampfes. Kennen wir nicht diesen Spruch aus Frankreich: „Wer Reformen unmöglich macht, macht Revolutionen unvermeidlich.“

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