Vor neun Jahren spielten die Imagine Dragons vor rund 200 Fans im Wiener Flex - am Donnerstagabend vor 40.000 Fans im Ernst-Happel-Stadion. Wie konnte es in dieser kurzen Zeit so weit kommen und was macht die Las-Vegas-Bande rund um den auffälligen Frontmann Dan Reynolds so erfolgreich? Eine Spurensuche vor Ort.
In seinen knapp 35 Lebensjahren hat Dan Reynolds schon mehr erlebt als viele andere in einem ganzen Dasein. Der Frontmann der Imagine Dragons ist alles andere als ein aalglatter, perfekter Superstar und gerade deshalb eines der größten Vorbilder der heutigen Jugend. Irgendwo zwischen Formatradio-Kitsch und seelischen Heilungshymnen für die Adoleszenten ist das Treiben des Quartetts aus Las Vegas angesiedelt, das vielleicht gerade durch diese sprunghafte Vielseitigkeit einen derart hohen Status erreicht hat. Rund 40.000 Fans finden sich Donnerstagabend im brüchigen Happel-Stadion ein, um ihren Helden zu huldigen. Schon nach dem zweiten Song, dem Radio-Tophit „Believer“, lässt sich das heilige Triumvirat der erfolgreichen Breitenwirksamkeit verorten: Es regnet weiße Konfetti, das Feuerwerk sprüht (etwas spröde) in den Himmel und der Sänger holt zur großen Ansprache aus.
Ihrer Zeit voraus
„Ich kann mich noch gut erinnern, als wir vor einigen Jahren vor 200 Leuten spielten - und jetzt seht euch das an.“ Dankbarkeit, Demut, Liebe - die Imagine Dragons waren bei ihrem Durchbruch vor ziemlich genau zehn Jahren ihrer Zeit einige Schritte voraus. Heiß diskutierte Begriffe wie „Wokeness“ oder „Snowflakes“ gab es damals nicht und Reynolds hatte früh mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Eine Therapie und seine Familie haben ihn gerettet, wird er mit stickiger Stimme am späteren Abend, ja, geradezu predigen. Es sei kein Fehler, sich Schwächen einzugestehen und Hilfe zu suchen. Die Zeilen zwischen der Musik wandeln an einem schmalen Grat. Für das vorwiegend junge und sehr junge Publikum ist Reynolds wie eine Vaterfigur oder zumindest ein großer Bruder, unter dessen starken Armen man Schutz sucht. Der seine Probleme zu ihren Problemen macht und seine Lösungsmöglichkeiten ihnen anbietet.
Andererseits wirken seine pathetischen Botschaften zuweilen kitschig und anstrengend. Wie es U2-Chef Bono seit vielen Jahren schafft, seiner an und für sich großartigen Band mit übertriebener Politisierung den Konzertdrive zu nehmen, tänzelt auch Reynolds auf einer ganz dünnen Linie. Seine Politik ist das Menschliche, seine Predigten gehen mehr ins Herz als ins Hirn. Ein Mann, der mit psychischen Problemen kämpft, in letzter Sekunde seine Ehe gerettet hat und nun als Mustervater seiner vier Kinder gilt, hat ausreichend Lebenserfahrung für eine Geschichtsstunde gesammelt. Sein großes Geheimnis ist primär simpel: Er teilt all diese Erlebnisse, all die Höhen und Tiefen offen mit allen. Nur so ist es möglich, dass schon beim Opener „It’s Time“ einer Besucherin das Wasser in den Augen steht.
Die Hits ummanteln
Die Imagine Dragons sind in ihrer gesamten Strahlkraft nach außen viel mehr als nur ihre Musik. Das ist auch gut so, denn die ist nach den vordergründigen Top-Hits immer noch relativ medioker gehalten. „Demons“, „Believer“, „Thunder“ oder „Whatever It Takes“ sind für den Mainstream-Erfolg prädestiniert, das Material des letzten Herbst veröffentlichten Trauer-Albums „Mercury - Act 1“ hingegen kommt nicht über Durchschnittsqualität hinaus. Die Band wählt eine interessante Strategie und ummantelt ihr Programm mit den bekanntesten und erfolgreichsten Liedern. Eine kluge Idee, denn so hat man das Publikum früh bei sich und verliert es auch nicht mehr, wenn die ersten Längen einsetzen. Bei „Follow You“ oder „Lonely“ merkt man doch recht schnell, dass sich Welthits nicht von selbst schreiben und nach einer guten Dekade steten Bergaufschwungs langsam aber doch erste Abnutzungserscheinungen eintreten.
In der Mitte gehen die Dragons aufs Ganze und offerieren den jubelnden Fans einen Akustikteil, der nicht nur aufgrund des Jesus-Looks von Leadgitarrist Wayne Sermon zu einer akustischen Werkschau im bäuerlichen Bible-Belt-Stil wird. Bei „I Bet My Life“, Reynolds persönliche Abhandlung über das schwierige Aufwachsen im streng religiösen Elternhaus, spielt er den Fanpriester, geht mit den Menschen auf Tuchfühlung und kann sich vor lauter zwischenmenschlichen Enthusiasmus nicht entscheiden, ob er jetzt eine Ukraine- oder Regenbogenfahne in die Höhe halten soll. Den Alphaville-80er-Klassiker „Forever Young“ widmet er schlussendlich den Kriegsvertriebenen. „Viele ukrainische Menschen kamen in den letzten Tagen in Wien auf mich zu und haben mir erzählt, wie es ihnen geht und dass ihre Lieben noch immer in Kiev feststecken. Jedes Leben gehört geschützt und jedes Leben hat dieselbe Bedeutung.“ Reynolds umarmt einmal mehr metaphorisch die ganze Welt und ist ganz in seinem Element. Die Inbrunst seiner Ansprache beeindruckt.
Zwischen hart und zart
Die musikalisch einwandfreie und fehlerlos aufspielende Band ist seit jeher ausschmückendes Beiwerk der großen Reynolds-Show und muss sich ihre Meriten mit eigenwilligen Outfits verdienen. Zu sehr sucht der Frontmann das Rampenlicht, verlässt den Mittelsteg inmitten der Fans auch nur im äußersten Notfall und suhlt sich lieber im Jubel. Noch nicht einmal Oberfrontmann Mick Jagger klammert sich so behände an der Aufmerksamkeit seiner Schäfchen. Zwischen der Gesprächstherapiemonologe wird immer wieder auf der Bühne feurig losgefeuert oder eine neue Portion Konfetti ins Oval geblasen. Die durchaus starke neue Single „Bones“ geht dabei fast unter, das fröhliche „On Top Of The World“ wird gar ganz ausgelassen. So bleibt am Ende natürlich nur noch „Radioactive“ übrig und an diesem Song wird sich die Band - trotz all der anderen Erfolge - wohl für immer und ewig messen müssen.
Wie sagte Reynolds schon am Vortag im Interview zur „Krone“? „Es ist unglaublich, dass wir solche Stadien spielen, aber um uns mit den Großen messen zu können, müssen wir noch mindestens zehn Jahre auf diesem Level durchhalten.“ Der Boden ist dafür bereitet, die Fans zudem bereit. Im Vergleich zu seiner doch peinlichen Frequency-2018-Muskelshow im engen Badehoserl scheint Reynolds nach diversen privaten Querelen wieder in seiner Mitte angekommen zu sein. Das familiäre Glück erlebt der Autor dieser Zeilen hautnah mit, denn Ehefrau Aja Volkman und die vier gemeinsamen Kinder tanzen und singen im Front-of-Stage-Bereich glückselig mit und ziehen sich erst im Schlussdrittel in ihren Backstage-Bereich zurück. Für das große Glück muss man ständig arbeiten und kämpfen. Vielleicht ist das nicht die schlechteste Grundbotschaft, die Reynolds mit seiner Band hinter so viel Pomp und Trara verbirgt. Ein Safe Space für die pandemisch geschlauchten Massen.
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.