Der Krieg in Europa
Eine Welt im Chaos: Putin und das Rätsel Russlands
Das Erwachen ist bitter. Niemand konnte sich so einen neuen derartigen Krieg in Europa vorstellen. In seinem neuen Buch „Was für ein Jahrhundert“ zeigt „Krone“-Redakteur Kurt Seinitz Auszüge, wie Putin mit seiner Missachtung die Welt in ihrem Fundament erschüttert hat.
Der russische Staatsführer hat mit seinem Tabubruch die Welt in ihren Grundfesten erschüttert und die gesamte europäische Friedensordnung zum Einsturz gebracht. Diese Ordnung war als eine Lehre aus den und eine Antwort auf die beiden verheerenden europäischen Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, aufgebaut worden. Man konnte sich einen neuen derartigen Krieg in Europa einfach nicht mehr vorstellen. Niemand rechnete mit solch einer Ruchlosigkeit und Grausamkeit im Kreml. Die Europäer waren vom Frieden verwöhnt gewesen. Kriege fanden seit einer Generation nur noch in Computerspielen statt.
Die verlorene Friedensdividende
Das Erwachen ist bitter. Mit der Friedensordnung ging auch die Friedensdividende verloren, die Europa über Jahrzehnte Wohlstand gebracht hatte. Wir erleben die größte Vermögensvernichtung seit dem Zweiten Weltkrieg. Wer hätte gedacht, dass die Ernährungssicherheit auch in Europa noch einmal ein Thema sein wird?
Putins Tabubruch wird auf Jahrzehnte derart einschneidende Folgen haben, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz quasi offiziell das Wort „Zeitenwende“ für alle Bereiche des öffentlichen Lebens in die Politik eingebracht hat. Die deutsche Regierung sah sich zu einer scharfen politischen und militärischen Wende genötigt, nachdem man in Berlin allzu lange in der Tradition des deutschen Idealismus an die Angleichung der russischen Politik an europäische Maßstäbe geglaubt hatte. Sogar als Putin schon 100.000 Truppen für „Manöver“ an der ukrainischen Grenze hatte aufmarschieren lassen, reisten Scholz und andere europäische Staatsführer nach Moskau, um den Kremlchef zu beschwichtigen.
Im Nachhinein stellte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock nüchtern fest: "Die gesamte internationale Gemeinschaft wurde eiskalt belogen.“
Welt im Chaos
Das neue Jahrhundert ist zwar erst zwei Jahrzehnte alt, aber dennoch schon ein Jahrhundert der Zumutungen. Darüber hat „Krone“-Außenpolitiker Kurt Seinitz ein Buch geschrieben, in dem er den Ursachen der Zeitenwende auf den Grund geht. Nur wer die Wurzeln der Konflikte erkennt, kann auch verhindern, dass die Welt vollends aus den Fugen gerät.
Warum verhält sich Russland so, wie es ist?
Das wirft die Frage nach Lüge und Täuschung als Mittel der russischen Politik auf. Lügen ist in der politischen Elite Russlands traditionell keine moralische Frage, sondern eine Waffe zur Durchsetzung von Zielen und der älteste Trick der Kriegsführung. Wer Lügen glaubt, entlarvt sich als Naivling und damit als Schwächling. Mit Täuschungsmanövern hatten schon Hunnenkönig Attila und die Mongolen Krieg in Europa geführt. Dieses Erbe muss jeder Politiker im Umgang mit der russischen Führung beachten.
Die Frage ist uralt: Warum verhält sich Russland so, wie es sich verhält? Warum ist es seit dem frühhistorischen Abschütteln des „mongolischen Jochs“ der Inbegriff von Unfreiheit und (geistiger) Abschottung geblieben? Weshalb endet alle Macht stets in der absoluten Allmacht einer Person?
Putin ist kein Schachspieler, sondern ein Kartenspieler, ein Hasardeur.
Ex-Schachgroßmeister Garri Kasparow
Putin kein Stratege, sondern Hasardeur
Als der KGB-Klon Putin von Boris Jelzin das Zepter übernommen hatte, führte er Russland umgehend in die Krallen dieses sowjetischen Staatssicherheitsdienstes zurück. Ex-Schachgroßmeister Garri Kasparow widerspricht allerdings der These, wonach Putin ein KGB-Meisterstratege sei. Kasparow, der weiß, was Strategie ist: „Putin ist kein Schachspieler, sondern ein Kartenspieler, ein Hasardeur.“
Die Politikwissenschafterin Claudia Major: „Für Putin ist ein schlecht laufender Krieg immer noch besser als ein schlechter Frieden, ein dahinköchelnder Krieg, an den sich Europa gewöhnt, besser als eine Kompromisslösung, bei der die russische Öffentlichkeit Fragen stellen könnte.“ Schwer liegt auf Russland das bleierne Gewicht der reaktionären orthodoxen Kirche. Seit der endgültigen Spaltung der beiden Kirchen 1054 ist sie von Misstrauen gegen Ideen aus dem Westen geprägt. In ihr lebt die DNA des Byzantinischen Reiches mit all ihren Merkmalen weiter.
Für Putin ist ein schlecht laufender Krieg immer noch besser als ein schlechter Frieden, ein dahinköchelnder Krieg, an den sich Europa gewöhnt, besser als eine Kompromisslösung, bei der die russische Öffentlichkeit Fragen stellen könnte.
Politikwissenschafterin Claudia Major
Laut dem Politikwissenschafter Jörg Himmelreich prägte dieser Bruch nicht nur das politische System des Zarenreichs, sondern auch noch jenes der Sowjetunion und ist mit der Herrschaft Putins sogar stärker denn je im russischen Staatsdenken verankert: „So bildet die historische orthodoxe Herrschaftsideologie auch heute wieder die Goldgrube für Putins autokratisches Regime und seinen wiederbelebten russischen Expansionismus.“
Thron und Altar bilden in Putins Russland wieder eine untrennbare Einheit. Patriarch Kyrill inszeniert seit Jahren Russland als Bollwerk gegen die westliche „gottlose Zivilisation“.
Heiliges Mütterchen Russland gegen Rest der Welt
Modernisierungsimpulse sind in Russlands Geschichte stets nur auf dem Verordnungsweg von oben und aus der Ideenwelt des Westens - stoßweise - nach Russland gekommen, bevor das Reich dann wieder in die traditionelle Stagnation verfiel: von einem Zaren Peter I., der den Russen die Bärte abschnitt und sie in westliche Kleidung zwang; von der deutschen Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, die als Zarin Katharina II. einen Hauch von Aufklärung brachte, oder von Lenins Marxismus. Liberalismus hat das Reich nie erlebt, außer in Ansätzen unter dem - gescheiterten - „Westler“ Michail Gorbatschow (Stichwort „Glasnost“). Heute ist es wieder so weit: heiliges Mütterchen Russland gegen den Rest der Welt - bei der Abstimmung in der UNO-Generalversammlung 5 zu 141.
Den bisher treffendsten Erklärungsversuch zum Rätsel Russland unter den aktuellen Vorzeichen liefert der Stalin-Biograf Stephen Kotkin. Sein Fazit: Russland hat historisch schon immer das Problem gehabt, einen Großmachtanspruch zu stellen, ohne ihn - mit Ausnahmen - erfüllen zu können. Die Ambitionen übersteigen die Möglichkeiten. So ist Russland mit 144 Millionen Einwohnern an Wirtschaftskraft nur dreieinhalb Mal größer als Österreich mit neun Millionen Einwohnern.
Es kämpft ständig um diese Ansprüche, konnte sie aber nicht erfüllen, da der Westen immer der Mächtigere blieb.
Stalin-Biograf Stephen Kotkin
Das Urproblem durch den ganzen Lauf der Geschichte sieht Stephen Kotkin darin, dass Russland immer geglaubt hat, als Macht des orthodoxen Ostens eine Mission erfüllen zu müssen: „Es kämpft ständig um diese Ansprüche, konnte sie aber nicht erfüllen, da der Westen immer der Mächtigere blieb.“ Die Konzentration der Macht auf eine Person und der Durchgriff der Autokraten nach unten, so Kotkin, hätten in der Geschichte eine selbstständige Entwicklung staatlicher Strukturen behindert. Putin griff auf altrussische Muster zurück.
Russland hat schlechte Erfahrung mit Invasoren
Das russische Sicherheitsempfinden ist geprägt von drei Invasionserfahrungen aus dem Westen (auch jene von den Mongolen) und den langen, nur schwer kontrollierbaren Grenzen. Die Abwehrkämpfe nährten einen Opfermythos, der durch eine aggressive Haltung kompensiert wird. Jede vermeintliche neue Bedrohung am Horizont wird so zur Selffulfilling Prophecy, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
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