Live in der Arena

Wardruna: Performativ durch die nordische Historie

Wien
06.07.2022 06:30

Rund 2500 Fans bejubelten Dienstagabend bei angenehm kühlen Temperaturen die norwegischen Folk-Musiker von Wardruna, die mit altertümlichen Instrumenten, akribischer Recherche und viel Leidenschaft vor knapp 20 Jahren eine neue Welt der Musik eröffneten. Mastermind Einar Selvik ließ uns schon vor dem Gig an seinen Gedanken und Visionen teilhaben.

Was haben Andreas Gabalier, die Foo Fighters, AC/DC, ABBA, Die Ärzte und Wardruna gemeinsam? Sie alle haben es geschafft, im Laufe des Jahres 2021 auf Platz eins der heimischen Albumcharts zu landen. Aus Skandinavien ist man es für gemeinhin gewohnt, dass Metalbands oder für den Mainstream eher obskur wirkende Truppen in die Breite stoßen, hierzulande war die einwöchige Spitzenposition für Wardrunas Album „Kvitravn“ eine mittlere Sensation. Metal, genauer gesagt Black Metal, steckt aber nur in der Vergangenheit von Frontmann und Mastermind Einar Selvik. Er war Drum-Tech bei Immortal und vier Jahre lang Drummer bei der Bergener Genre-Konstitution Gorgoroth. Schon 2000 live in der Wiener Arena, wie er sich noch exakt zurückerinnert. 22 Jahre später versammelt Selvik mit seinem Lebensprojekt rund 2500 Fans aus allen Alters-, Geschlechts- und Gesellschaftsschichten, um die Traditionen und Geschichten aus längst vergangenen Tagen in die Gegenwart zu transferieren.

(Bild: Andreas Graf)
(Bild: Andreas Graf)

Keine Flucht vor dem Heute
„Unsere Musik romantisiert weder die Vergangenheit, noch dient sie als Flucht aus dieser Welt“, erklärt uns Selvik am regnerischen Konzertvormittag im gemütlichen „Krone“-Talk, „wir fokussieren uns vielmehr darauf, die relevanten Themen und Erinnerungen ins Heute zu holen. Viele Themen haben heute dieselbe Relevanz wie früher und sind nur minimal verändert. Anderes hingegen hat nur in der Vergangenheit seinen Platz und soll auch dort bleiben.“ In der Wiener Arena tritt Selvik Dienstagabend nach zweijähriger Corona-Verspätung mit einer fünfköpfigen Band und Sängerin Lindy Fay Hella an, um das Areal für gut eineinhalb Stunden in eine nordische Sagen- und Geschichtenwelt zu tauchen. Dafür verwendet Selvik einzigartige Instrumente, die bis in die Steinzeit zurückreichen und deren Bedienung er sich autodidaktisch beibringt. Das Bühnenbild und die Lichteffekte verstärken das mantrische Treiben, doch der bescheidene Minimalismus ist im Endeffekt Trumpf.

(Bild: Andreas Graf)
(Bild: Andreas Graf)

„Das Format der Band ist sehr modern und zeitgemäß. Ich nütze die Impulse von früher, um sie mit der Gegenwart zu vermengen. Obwohl es zu jeder Geschichte Quellen gibt, ist alles sehr frei und offen.“ Akkurat und mit einer beneidenswerten Seriosität geht Selvik seit knapp 20 Jahren ans Werk. Seine Geschichten sind historisch belegbar und werden auch außerhalb der Musik gerne gehört. Er ist in Universitäten von Bergen über Reykjavik bis hin nach Oxford ein gefragter Gastdozent, wenn es um Ethnomusikalität geht. „Ich kann alle Texte mit Quellen belegen, aber Wardruna dient mir als Plattform für eine gewisse Freiheit. Ich kann unterrichten und performen, darf mich überall austoben und kann die nordische Mythologie dadurch variabel und vielseitig vermitteln. Mir ist es im Kontext der Band aber nicht wichtig, zu 100 Prozent authentisch zu sein und die Musik einer bestimmten Epoche zu vermitteln.“

(Bild: Andreas Graf)
(Bild: Andreas Graf)

Familiensache
Eingeschränkter ist Selvik bei Auftragsarbeiten. Als er den Score für die Amazon-Erfolgsserie „Vikings“ kreierte, gelang ihm der breitflächige Durchbruch. Die Auftragsarbeit für das berühmte Computerspiel „Assassin’s Creed“ steigerte die Popularität des Norwegers ins Unermessliche. Plötzlich wurde aus einem nerdigen Nischenkünstler ein leidenschaftlicher Interpret für die breite Masse. Wenn die Musik in ihren immer noch recht engen Genregrenzen scheitert, muss es eben das Fernsehen richten. Dem Streaming-Hype sei Dank spielen Wardruna nun nicht vor einer Handvoll Rollenspieler, Hobby-Skalden und Schwertträger, sondern vor einem diversen Publikum, das weder beim Alter, noch beim Geschlecht oder der Nationalität Grenzen kennt. „Wir alle sind eine verrückte, große und diverse Familie. Das allabendlich erleben zu dürfen ist wirklich wunderschön.“ Selvik überlässt bei Wardruna nichts dem Zufall und lagert ungern aus. Er hat die Kontrolle über das Projekt, führt seine Leidenschaft mit beneidenswerter Akribie an und lässt sich nicht von den Scheinwerfern des glänzenden Musikbusiness blenden.

(Bild: Andreas Graf)
(Bild: Andreas Graf)

Neben dem reichhaltigen und ungewohnten Instrumentarium überzeugen in der Arena der einzigartige Klang, das mystische Weihrauch-Olfaktorium und die professionelle Stringenz auf der Bühne, der aber trotz aller Perfektion immer eine Form von Leichtfüßigkeit und spielerischem Gestus innewohnt. Die Liebe zur Musik und der speziellen Thematik war Selvik in die Wiege gelegt. Bei Gorgoroth fand er mit dem damaligen Sänger und Freund Gaahl einen „partner in crime“. „Er hatte sehr viel Wissen und eine besondere Passion für die nordische Geschichte. Ich konnte früh meine Ideen und Visionen mit ihm teilen. Wir haben viel geredet und noch mehr diskutiert. Gaahl ist ein richtiger Künstler, der einen besonderen Sinn für Ästhetik hat und der immer wusste, worum es mir geht. Er hat meine Visionen nicht nur verstanden, sondern auch unterstützt und mir Kraft gegeben.“ Gaahl verließ Wardruna 2015 und bereite seinem Freund Selvik damit den Pfad, sich komplett auszutoben. Das Ergebnis? Allumfassende Erfolge, ein steigender Bekanntheitsgrad und gefüllte Konzerthallen.

(Bild: Andreas Graf)
(Bild: Andreas Graf)

Musik gegen die Leere
„Ich bin mit Metal, Klassik und nordischer Folklore aufgewachsen“, erinnert sich Selvik zurück, „ich habe aber immer etwas in unserer Folk-Musik vermisst, das ich selbst machen wollte. Wardruna entstand ursprünglich aus einer gewissen Leere die ich fühlte, weil es nirgendwo die Musik gab, die in meinem Kopf schon seit längerer Zeit herumspukte. Ich mache es heute gleich wie früher. Ich komponiere, musiziere und recherchiere. So habe ich stets unterschiedliche Zugänge zu einem großen Themenkomplex.“ Selvik transportiert, auch live in Wien, wie kein Zweiter die Geschichten und Magie des kalten Nordens in eine unsichere Gegenwart der Digitalisierung, globaler Krisen und Unsicherheiten. Mag die Musik Wardrunas für die Fans ein eskapistischer Safe Space sein, für Selvik ist sie das nicht. Der Mann hat eine sich stets im Wandel befindliche Mission, die noch lange nicht beendet ist. „Ich sehe mit diesem Projekt noch so viel Potenzial in alle Richtungen und habe noch sehr viel zu sagen.“

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