Vor zehn Jahren starb ein junger Oberösterreicher auf Mallorca. Bei einem Balkonsturz. Seine Eltern führen seitdem einen Kampf gegen Windmühlen bei der Suche nach der Ursache für das Drama.
Irgendwie wirkt es fast, als wäre er noch da, in diesem gemütlichen Haus in Mattighofen. Wo er aufgewachsen ist, wo er als kleiner Bub mit seinen beiden Geschwistern gespielt, wo er später mit Freunden lustige Partys gefeiert hat.
„Der Urlaub sollte eine Belohnung sein“
„Nie machte uns Andreas Schwierigkeiten“, erzählt Hannelore Kletzl (57), und deutet - als könne sie damit ihre Worte bestätigen - auf Bilder, die ihren Sohn zeigen. Bei Familienfesten. Bei Urlauben. „Wir sind mit unseren Kindern oft verreist, um ihnen ein bisschen die Welt zu zeigen.“
„Meine Frau und ich wollten ihnen immer nicht nur Eltern, sondern auch Freunde sein“, mischt sich ihr Ehemann Heinrich (60) in das Gespräch ein: „Sie sollten wissen, dass sie vor uns keine Geheimnisse haben müssen. Dass wir ihnen beistehen, bei jedem Problem. Und, wirklich, es gelang uns, sie zu verantwortungsbewussten Menschen zu erziehen.“ Und ihnen seinen Lebensleitsatz mitzugeben.
Wir wussten immer, dass die Unfall-Version nicht stimmen konnte. Denn so vieles hat von Beginn an dagegen gesprochen.
Andreas’ Eltern
„Wenn du eine Sache anfängst, dann musst du sie zu Ende bringen.“ Er selbst hatte jung die Schlosserei seines Großvaters übernommen und nach und nach zu einem florierenden Metallbau-Betrieb gemacht. Tochter Steffi, heute 25, ist - wie davor ihr um zehn Jahre älterer Bruder Phillip - nach der HTL-Matura in den Betrieb eingetreten. Andreas hatte dort 2010, mit 15, eine Ausbildung begonnen.
Das Dasein der Kletzls schien also geordnet. Die Zukunft so wunderbar wie die Vergangenheit. Damals, 2012. „Meine Söhne hatten den ganzen Sommer hindurch extrem fleißig gearbeitet, dafür wollte ich sie und Daniel, Andreas’ besten Freund - ebenfalls Lehrling in unserer Firma - belohnen“, berichtet der Vater: „Und ich buchte für sie alle eine Reise.“
Fünf Tage Mallorca, am Ballermann. In der 4-Sterne-Unterkunft „Riu Park Playa“, all-inclusive. Preis pro Kopf: 700 Euro. Am 16. August, um 17.55 Uhr ging es los, vom Flughafen Salzburg, mit einer Air-Berlin-Maschine. Kurz nach 21 Uhr checkten die drei Oberösterreicher in dem Hotel ein, aßen am Buffet zu Abend, bevor sie in ihre Einzelzimmer gingen und ihre Koffer auspackten.
Hörten seine Stimme zum letzten Mal
Währenddessen telefonierten sie per Handy-Konferenzschaltung; Phillip meinte, er sei müde und wolle zu Bett gehen; Andreas und Daniel beschlossen, noch ein wenig die Umgebung zu erkunden. „Sie riefen auch uns an; beteuerten, wie sehr sie sich auf die Zeit, die vor ihnen liege, freuen würden“, erinnert sich Hannelore Kletzl, und Tränen laufen aus ihren Augen, als sie nun sagt: „Heinrich und ich konnten da nicht ahnen, dass wir zum letzten Mal Andreas’ Stimme hören würden.“
Alarmierende Spuren am Todesort
Fest steht: Um 23.30 Uhr verließen er und Daniel das „Riu Park Playa“, besuchten zwei Lokale, tranken jeder der drei kleine Bier, bevor sie sich gegen 3.30 Uhr auf den Weg zurück in ihr Hotel machten. Und dabei im Trubel verloren. „Ich fand das nicht schlimm“, so Daniel, „ich dachte, mein Freund würde alleine heimfinden - und dass wir uns eh bald beim Frühstück sehen würden.“ Aber alles war ganz anders. Um 6.18 Uhr wurde Andreas, fast nackt, im Innenhofs eines anderen Hotels - des „Obelisco“ - gefunden. Tot.
Das schnelle Urteil der Ballermann-Polizei: Er habe im Vollrausch das Gebäude verwechselt und sei in der Folge von einer Außentreppe gestürzt, bei einer „Balconing-Aktion“. Wie Dutzende Jugendliche, die jährlich auf Mallorca im Suff Balkonsprünge unternehmen; dabei sterben oder schwer verletzt werden.
Wir haben alles getan, um die wahren Umstände des Todes unseres Sohnes zu erforschen. Aber niemand wollte davon wissen.
Hannelore Kletzl
Überwachungskamera zeigt die letzten Schritte von Andreas
Eine Unfall-Version, an die Hannelore und Heinrich Kletzl nie glaubten: „Weil unser Bub nicht so unvernünftig gewesen wäre, so etwas Absurdes zu tun.“ Fakten, die sie dann bei ihrer Suche nach der Wahrheit erfuhren, bestärkten sie in dieser Überzeugung. Filme aus Überwachungskameras, die zeigen, wie ihr Sohn geraden Schrittes um 4.51 Uhr die Lobby des „Obelisco“ betreten und dann die Treppe zu den Zimmern hinaufgegangen war. Der Umstand, dass seine Kleidungsstücke auf Gängen in verschiedenen Stockwerken lagen; die Tatsache, dass sein Handy fehlte und damit nach seinem Tod um Tausende Euro telefoniert worden ist.
Die Ungereimtheiten in dem Fall
„Wenn du eine Sache anfängst, dann musst du sie zu Ende bringen.“ Die Eltern starteten noch mehr Nachforschungen. Ersuchten den berühmten pensionierten Münchner Mordfahnder Josef Wilfling um Privat-Erhebungen. Sie beauftragten mehrere anerkannte österreichische Gerichtsgutachter mit Untersuchungen.
Vermeintlicher Unglückshergang sei falsch
Fazit: Der Kriminalist befand, dass der vermeintliche Unglückshergang falsch sei. Ein Obduktionsbefund belegte, dass Andreas kaum alkoholisiert gewesen war; eine Sturzanalyse bewies, dass er nicht von der Außenbalustrade, sondern von einem Balkon des „Obeliscso“ - der Zimmer mit Nummer 314, 414, 514, 614, 714 oder 814 - in die Tiefe gefallen sein musste.
Wer waren die Mieter? Eine Frage, bis heute unbeantwortet. Genauso wie die nach der Identität jener Burschen, die beim Flug nach Palma hinter den drei Oberösterreichern gesessen und mit ihnen, laut Phillip, „in salzburgerisch-bayerischem Dialekt“ geplaudert hatten - und die er am Vormittag „danach“ in dem Unglückshotel gesehen habe.
Die Tragödie eines jungen Deutschen
Ungeklärt zudem, wohin Andreas nach der Trennung von Daniel gegangen war. Spuren an seiner Jeanshose von Meerwasser und Sand zeugen davon, dass er am Strand gewesen sein dürfte.„Vielleicht hat er dort im ,Obelisco‘ untergebrachte Personen getroffen und wurde dann von ihnen in ihr Hotel eingeladen“, vermuten seine Eltern.
Ähnlicher Fall im Jahr 2014
Die Hintergründe zu seinem Tod wären demnach andere, als von den mallorquinischen Behörden zunächst angenommen. Wie bei einem Fall aus 2014. Als ein junger Deutscher am Ballermann - angeblich freiwillig - aus seinem Hotelzimmer im vierten Stock gesprungen sein sollte. Seitdem ist er querschnittgelähmt und leidet an Amnesie. 2020 stellte sich ein Landsmann von ihm bei der Kripo. Er habe das Opfer einst von seinem Balkon in der zweiten Etage gestoßen, sagte er aus, und dass er nicht länger für seine Tat unbestraft bleiben wolle.
Zurück zu Hannelore und Heinrich Kletzl. Wiederholt sind sie in den vergangenen zehn Jahren nach Mallorca gereist, um die Kripo zu Ermittlungen zu überreden. 2019 beschloss der Chef der Mordkommission nach Durchsicht der von den Eltern vorgelegten Akten, den Fall aufzurollen. Doch dann kam Corona: „Und nichts geschah.“
Wir werden nie aufhören zu versuchen, die Wahrheit aufzudecken. Weil wir nur so unseren Seelenfrieden finden können.
Hannelore und Heinrich Kletzl
In der Zwischenzeit wurde der Fahnder befördert; nicht ohne seinem Nachfolger die „Causa Kletzl“ nahegelegt zu haben: „Bei einem Besuch bei ihm im März 2022 erklärte er, er wolle Erhebungen veranlassen. Und beim örtlichen Gericht dazu notwendige Rechtshilfeersuchen veranlassen.“
Das quälende Gefühl der Ungewissheit
An Deutschland, an Österreich. Da zu überprüfende Verdächtige, die einst in besagten Zimmern des „Obelisco“ gewohnt beziehungsweise beim Flug nach Palma mit Andreas gescherzt hatten - wahrscheinlich aus diesen Ländern stammen. Entsprechende Anträge aus Spanien sind aber bislang nicht eingelangt.
„Und wir drehen uns weiterhin im Kreis, in unserem Drang, endlich zu erfahren, warum unser Bub tatsächlich sterben musste.“ Was würde das Wissen darüber verändern? „Die Ungewissheit wäre weg. Und das Gefühl, Andreas etwas schuldig zu sein.“ Etwas, das die Familie nicht zur Ruhe kommen lässt. Denn Heinrich Kletzls Lebensleitsatz haben auch seine Frau, Tochter Steffi und Sohn Phillip verinnerlicht.
„Wenn du eine Sache anfängst, dann musst du sie zu Ende bringen.“
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