60 Jahre Rock ‘n‘ Roll - im Zuge ihrer „Sixty“-Jubiläumstour machten die Rolling Stones am Freitag vor knapp 57.000 Fans im ausverkauften Wiener Happel-Stadion halt. Mick Jagger, Keith Richards und Co. lieferten einen in dieser Form nicht erwarteten Triumphzug ab und überraschten die Fans mit einem ukrainischen Jugendlichen-Chor. Rock ‘n‘ Roll und Politik gehören eben doch zusammen.
Stelze, Sachertorte und Strudel im Schweizerhaus, dann noch ab zum Würstelstand, um „mehrere Ottakringer“ zu trinken - in fast einwandfreiem Deutsch erzählt Mick Jagger etwa zur Halbzeit des Rolling-Stones-Gigs, was er am Tag vor dem Konzert so getrieben hat. „Ich habe ein bisschen zugelegt. Es ist nicht leicht, in Wien Gewicht zu verlieren.“ Mit spitzbübischem Schmäh und guter Laune geht Freitagabend die ganze Band ans Werk. Rund 56.800 Fans sorgen für ein ausverkauftes Haus und weisen die Stadionkonkurrenz Guns N‘ Roses, Die Toten Hosen, Imagine Dragons und Green Day samt und sonders in die Schranken. Wenn mal alles richtig voll werden soll, dann müssen eben die Originale ran. Das fitteste Rentnerteam der Welt ließ sich auch von Corona nicht aus dem Tritt bringen, und rauscht über zwei Stunden lang wie ein ICE-Zug über die Happel-Bühne.
Beste Setlist
Mick Jagger, der in etwas mehr als einer Woche seinen 79. Geburtstag feiert, spult unzählige Kilometer am Steg ab und zeigt mit seinen lasziven Schlangentänzen, dass er eine stabilere Hüfte als so manch Mittvierziger hat. Ronnie Wood ist der ruhige Gitarrenmotor der Band, während Raubein Keith Richards als Einziger stolz zu seiner grauen Mähne steht und die überbordende Eitelkeit der anderen mit prägnanter Coolness wettmacht. Das Trio Infernale findet von Anfang an in die Spur und legt die beste Setlist der ganzen bisherigen Tour vor. Nach dem Opener „Street Fighting Man“ folgt ein beherztes „Let’s Spend The Night Together“. Dem mediokren „Tumbling Dice“ reiht sich das Bob-Dylan-Cover „Like A Rolling Stone“ an, das sich mit immenser Spielfreude in die Herzen der Anwesenden bohrt.
Auch bei den vier im Vorfeld zur Wahl stehenden Wunschsongs haben die Österreicher gut entschieden - das eindringliche „Wild Horses“ gehört zu den intensivsten Momenten des sehr gelungenen Abends. Wie schon am Mittwoch bei Guns N‘ Roses braucht der Sound ein bisschen Zeit, bis er sich im Happel-Stadion richtig kalibriert und alles seinen gewohnten Gang geht. Mick übt sich einstweilen in seinem fabelhaften Deutsch und schwingt mit beeindruckender Leichtigkeit über die riesige Bühne. Platz für große Emotionen und überbordendes Sentiment bleibt noch nicht einmal bei der Verabschiedung von Charlie Watts. Bereits im Intro der Show zeigt die Band mit einer Video-Hommage Schnappschüsse aus seiner Karriere und unterlegt sie mit seinem Drumming. Das Video stoppt ohne Pathos mit Charlies Lächeln. It’s only Rock ’n’ Roll - the show must go on!
Ein Sprung in den Blues-Keller
Steve Jordan, schon lange Mitglied im Stones-Dunstkreis und früher Live-Drummer von Keith Richards, ist mit 65 das Bandbaby und bringt Songs wie „Paint It Black“ oder dem ewigen Klassiker „Honky Tonk Women“ eine gewisse Wucht, die sein Spiel doch vom eher verhaltenen, dafür ungemein präzisen von Watts unterscheidet. Von Müdigkeit oder Alterserscheinungen ist vor allem im famosen zweiten Teil des Konzerts keine Spur. Bei „Miss You“ startet Jagger an der Gitarre und Bassist Darryl Jones wird ein feines Solo gegönnt, das kratzige „Midnight Rambler“ und ein über alle Maßen perfektes „Sympathy For The Devil“ bilden mit ihren Jam-Parts und dem erdigen Blues fast ein Gefühl, als würde man sich bei einer gemütlichen Underground-Show im Reigen oder der Bluegarage befinden. Dazu noch das unwiderstehliche „Gimme Shelter“, in dem sich Jagger ein unvergleichliches Stimmduell mit Sängerin Sasha Allen liefert - Grandezza pur!
Übertroffen nur mehr von der wahren Sensation des Abends. Im Zugabenteil verfärbt sich die Stones-Zunge auf dem großen Videoscreen plötzlich in die ukrainischen Landesfarben blau und gelb und ein 15-köpfiger Jugendlichen-Chor aus Kiew entert die Bühne. Gemeinsam mit der Band intoniert man den Klassiker „You Can’t Always Get What You Want“ und breitet einen Mantel der Gemeinschaft und des Friedens über das Happel-Areal. Es ist ein kurzer und seltener Augenblick der Sanftheit in diesem scheppernden Mahlstrom des Rock’n’Roll, der alle Anwesenden bei aller Freude über das befreit Dargebotene nicht vergessen lässt, in welch prekärer und filigraner Lage wir uns auf dieser Welt befinden. Folgerichtig legen Jagger und Co. dann doch noch „(I Can‘t Get No) Satisfaction“ nach, um am Ende den aufgebauten Partyvibe wieder zu intensivieren. Das wäre ihnen in dieser Form aber auch mit jeder anderen Nummer gelungen.
Kleine Zeichen der Liebe
Es sind die kaum merkbaren Kleinigkeiten, die eine Show der alten Herren im tiefen Winter ihrer Karriere so besonders machen. Wenn etwa Jagger Ronnie Wood per Fingerschnippen zu verstehen gibt, dass er sich jetzt ins Rampenlicht stellen soll. Wenn Jagger den künstlerisch tätigen 75-Jährigen liebevoll als „Da Vinci of the Danube“ und „Picasso of Prater“ bezeichnet und Wood wiederum beim von Keith Richards gesungenen Song „Slipping Away“ in ein tiefes und herzhaftes Gitarrenduell mit ebenjenem verfällt. Von den Stones kann man nicht genug kriegen und es bleibt die leise Hoffnung, dass diese honorigen Herren es auch mit Anfang oder Mitte 80 noch auf große Tour schaffen. Wer ein so dermaßen kraftvolles, voller Hits und Überraschungen gespicktes Set vorlegt, der kann sich nicht einfach so in die Pension vertschüssen. Die Rolling Stones sind und bleiben die Blaupause für die gesamte Welt des Rock’n’Rolls.
Bei der nächsten Generation gibt es indes noch Aufholbedarf. Bilderbuch bemühten sich mit „Maschin“, „Spliff“ und Co. musikalisch nach Kräften, verhedderten sich vor einem gestandenen Rocker-Publikum aber an der affektierten Selbstüberhöhung. Die Prince-Anleihen und das androgyne Äußere sollten an die glänzenden 70er-Jahre erinnern, die von vielen Erfolgen und Liebesbekundungen verwöhnten Musiker eroberten die treuen Stones-Herzen aber natürlich nicht so einfach im Sturm. Das animierte Frontmann Maurice Ernst immer wieder zu Ansagen á la „Wien, du bist zu leise“ oder „wir sind hier bei einem Rolling-Stones-Konzert, macht mehr Stimmung“. Unermüdlich bis zur Fremdschäm-Grenze wiederholt. In der Champions League des globalen Rock-Business geht es doch ein bisschen anders zu als an der Spitze der heimischen Bundesliga. Schlag nach bei Wanda und Queen, einst in Linz. Daraus lässt sich aber auch viel lernen und mitnehmen. Auch die Stones sind nicht als perfekte Entertainer vom Himmel gefallen - nur fast.
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