Lokalaugenschein
„Russland darf nicht den Frieden diktieren“
„Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass man einmal in einem Nachtzug in einen Krieg auf europäischem Boden fährt. Und dieser Krieg hat schon globale Dimensionen. Wir leben in einer neuen Welt“, kommt es Außenminister Schallenberg in den Sinn während der 14-Stunden-Fahrt ab der alten k.-u.-k.-Festungsstadt Przemysl, heute Polen. Der 35 Liegewagen lange Tatzelwurm ist heute die Nabelschnur Kiews nach Europa.
Krieg? Welcher Krieg, könnte man im ersten Eindruck in der ukrainischen Hauptstadt fragen: volle Cafés, aus dem Vollen schöpfende Restaurants, Kinder tollen in den Parks. Die Menschen blenden den Krieg aus, wann immer es eine Art Normalität zulässt. Der Krieg ist Alltag geworden.
Über der Idylle schwebt ein Damoklesschwert
Doch die Ruhe täuscht. Über der sommerlichen Idylle schwebt ein Damoklesschwert: Putins Terror-Raketen könnten jederzeit wieder zuschlagen. Dann würfelt das Schicksal, und es hätte wieder einen Wohnblock getroffen.
Nicht nur Raketen, auch Putins Truppen könnten zurückkommen. Der Krieg hinterließ schon wenige Kilometer vor Kiew seine Spuren: Panzersperren in den zusammengeschossenen Vorstädten zeugen von Putins Blitzkriegsdebakel am 24. Februar.
Der Westen will uns bis zum letzten Ukrainer bekämpfen. Sollen sie es nur versuchen. Jeder sollte wissen, dass wir im Großen und Ganzen dort noch nicht einmal ernsthaft begonnen haben.
Russlands Präsident Wladimir Putin
Jetzt rollt der Abnützungskrieg im Osten, und der russische Außenminister Lawrow kündigte die Einverleibung weiterer Gebiete an. Außerdem signalisierte er kein Interesse an Verhandlungen mit Kiew. Putin prahlt: „Wir haben noch nicht einmal richtig angefangen.“
Anti-Amerikanismus als Friedensethik getarnt
Zelenskij & Co. sind es schon gewohnt, von ausländischen Polit-Besuchern - 125 bisher - nach der Verhandlungsbereitschaft gefragt zu werden. Doch die Verhandlungsdrängler sind hier an der falschen Adresse. Ihre Friedensethik ist oft Tarnung ihres Anti-Amerikanismus.
Der Krieg, besser gesagt: die Kampfhandlungen, werden enden, wenn sich Putin satterobert hat. Keiner außerhalb des Kremls kennt seine Ziele, die er gut zu verstecken weiß. Er sagt, dass alles nach Plan läuft, aber er nennt den Inhalt nicht.
Darum geht es auch bei den Gesprächen des Ministers mit Zelenskij & Co. Was sind Kiews Ziele? Sieg? Rückeroberung? Schallenberg hält dagegen: „Alles muss getan werden, um der Ukraine bei der Verteidigung zu helfen, damit der Krieg so rasch wie möglich beendet werden kann. Die Ukraine muss selbst bestimmen, wozu sie bereit ist, bestimmt aber darf ein Friede nicht von Russland diktiert werden.“
Kiew: Keine Kritik an Österreichs Kurs
Für den österreichischen Außenminister ist der Krieg jedenfalls ein richtungsentscheidendes Ringen um die Zukunft der Weltordnung: „Siegt in diesem zivilisatorischen Rückfall das Gesetz des Dschungels, das Faustrecht oder das System nach rechtlichen Normen? Besonders die Sicherheit kleiner Staaten ruht in der Gültigkeit eines Netzwerks von Normen, dem Völkerrecht.“
Kein einziges Mal, so der Minister, habe er bei Zelenskij & Co. einen kritischen Ton zur österreichischen Neutralität vernommen: „Hier gilt der Standpunkt: Wer keine Waffen liefern kann, könne seine Solidarität auf andere Weise zum Ausdruck bringen.“
Zum Beispiel hatte Österreich als Erster eine Luftbrücke für ukrainische Kriegsflüchtlinge eingerichtet, die die bitterarme Republik Moldau „überschwemmten“. Oder es hat die ÖBB schon 1,7 Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine herausgebracht; was viel zu wenig bekannt ist. Leider würde es fünf Millionen Tonnen pro Monat bedürfen, um die kriegsbedingte Hungerkrise in der Dritten Welt abzuwenden. 50 Prozent des World-Food-Programms der UNO beruhen auf Getreide aus der Ukraine und Russland.
Weite Teile der Welt folgen der Propagandabehauptung Russlands, wonach die westlichen Sanktionen an der Getreideknappheit schuld seien. Das bringt Schallenberg auf die Palme: „Es gibt keine einzige Sanktion gegen ein Getreidekorn.“
Keine Propaganda, sondern skurrile Realität ist folgende Tatsache: Durch die Ukraine führen mehrere Pipelines für russische Energieprodukte nach Europa. Dafür zahlt Moskau superpünktlich Transitgebühren. An wen? An die Ukraine! Noch immer! Es zahlt also der Aggressor dem Opfer.
Ein wirklich komischer Krieg.
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.