Als bisher letzter der überlebten Mitglieder der legendären Sex Pistols hat Gitarrist Steve Jones 2017 seine Autobiografie vorgelegt. Nun wurde sie endlich auch ins Deutsche übersetzt und überrascht mit schonungsloser Ehrlichkeit und interessanten Anekdoten. Ein Lesevergnügen für all jene, die es ein bisschen rauer mögen.
Am 28. Oktober dieses Jahres feiert das Kultalbum „Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols“ seinen 45. Geburtstag. Das vielleicht wichtigste, mit Sicherheit aber wegweisendste Punkalbum der Musikgeschichte gilt immer noch als eruptives Mahnmal eines Prä-Internet-Hypes, das die Musikwelt nicht nur, aber vor allem in Großbritannien für immer verändert hat. Das Manager-Genie Malcolm McLaren castete vier unterschiedliche, aber vor allem zerstörte Charaktere, eroberte mit seiner Lebenspartnerin Vivienne Westwood von seiner Londoner Modeboutique „Sex“ aus die Welt und zerstörte mit den Sex Pistols zumindest temporär die Erhabenheit des erfolgreichen, aber unnahbaren Prog-Rock und ließ auch Hard- und Blues-Rock-Legenden wie Mumien aussehen. Die unglaublich kurze, aber umso legendärere Karriere der Band haben schon alle Mitglieder zwischen zwei Buchdeckel gepresst - Gitarrist Steve Jones war 2017 der bislang letzte. Seine Autobiografie „Meine Sex Pistols Geschichte“ wird zum Albumjubiläum nun endlich auch auf Deutsch aufgelegt.
Weit aus dem Fenster gelehnt
Wer seine Musikerbiografien möglichst skandalträchtig und fetzig liest, der landet hier gewiss im Lese-El-Dorado. Noch viel interessanter als die Anekdoten und Erinnerungen mit der zutiefst zerstrittenen Band sind freilich die Geschichten aus seiner Kindheit, bei denen sich der West-Londoner weiter rauslehnt, als es die meisten anderen Musiker tun. So sinniert er über seine fehlenden Lese- und Schreibfähigkeiten, die er sich erst spät in den 80er-Jahren in den USA aneignete, berichtet schockierend über sexuellen Missbrauch von seinem Stiefvater und schlägt dabei die Brücke zu seinem persönlichen degenerierten Sexualverhalten. Dass er zeit seines Lebens alles ins Bett (oder wo auch immer) brachte, was nicht bei drei auf den Bäumen war schreibt er mehr seinen furchtbaren Kindheitserfahrungen, als seinem ausgeprägten Rockstar-Gestus zu.
Jones war bis ins hohe Erwachsenenalter ein Langfinger und bestahl in seiner Londoner Jugendzeit sogar Musiklegenden wie David Bowie oder Rod Stewart, die ihm das später mehr oder weniger verziehen haben. Das Arbeiterklassekind tingelte zwischen Böden und Sofas von Freunden durch das triste London der 70er-Jahre, bis er bei McLaren den nötigen Halt in seinem Leben fand. Jones erzählt freimütig von seiner Freundschaft mit Drummer Paul Cook und einer leidenschaftlichen Hassbeziehung zu Frontmann Johnny Rotten aka John Lydon, den er in seinem gut 350-seitigen Werk des Öfteren metaphorisch über die Klippe springen lässt. Jones bricht auch mit diversen Urban Legends aus der Punk-Historie und erklärt offen, wie er von klein auf Rod Stewart und Roxy Music verehrte, sich später auch über die mitsingtauglichen Hymnen von Boston der Journey erfreuen konnte.
Interessante Zeitzeugenberichte
Trotz der anarchischen Haltung und des wilden Gebarens zeigt der Gitarrist in seiner Autobiografie mehrmals auf, dass er Punk anders verstand als die vielen Fans, die ihm verfielen. Mit den stacheligen Haaren oder einem ausgeprägten Nieten-Look fängt Jones auch in der Retrospektive wenig an, vielmehr sei das Wesen des Punk für ihn Veränderung und Evolution. Das sehen viele mit Sicherheit diametral anders. Die Zeitzeugenberichte von den skandalträchtigen Pistols-Touren durch Großbritannien oder die USA, der nationale Aufruhr nach der Bill-Grundy-TV-Show in England und die harte Suche nach einem Plattenlabel werden ebenso detailliert rekapituliert, wie die Einzigartigkeit des kurz aufgeflammten und umso schneller verglühten Sid Vicious oder die ständigen Hahnenkämpfe zwischen der musikalischen (Jones und Cook) und der öffentlichkeitswirksamen (Rotten und Vicious) Fraktion in der Band.
Jones mokiert sich vor allem darüber, dass das Bill-Grundy-Interview den Weg der Sex Pistols nachhaltig verändert, wenn nicht sogar mit zerstört habe. Denn über Nacht wurde aus vier feurigen Jungerwachsenen mit dem Hang zum Aufruhr eine Posterband, deren Image und Gepose die pure Musik in den Schatten stellte, was sich bis zum explosiven Ende der Band 1978 nicht mehr ändern sollte. Jones probiert sich mit Freunden wie Duff McKagan oder Andy Taylor von Duran Duran später in unterschiedlichen Bands, findet seine Liebe zu langen Haaren und benzinfressenden Motorrädern und macht bei insgesamt drei spektakulären Sex-Pistols-Wiedervereinigungen mit, die ihm zwar ein Haus und ein angenehmes Leben finanzieren, ihn aufgrund der immer noch vorherrschenden Streitereien untereinander aber auch an den Rand des Wahnsinns treiben.
Ambivalentes Vergnügen
Steve Jones‘ Buch ist teilweise harsch und misogyn geschrieben, doch gibt es auch einen schönen Einblick in das pulsierenden London der späten 70er-Jahre, das mehr als 40 Jahre später nichts von seiner dreckigen Faszination verloren hat. Das Vorwort von seiner guten Freundin Chrissie Hynde fällt leider arg knapp aus, dass sich der heute 66-Jährige bei der Nennung von Namen kein Blatt vor den Mund nimmt, ist erfrischend. Seit knapp 30 Jahren ist Jones mittlerweile trocken, hat eine fast täglich laufende Radiosendung und lebt glücklich mit seinem Hund in Los Angeles. Der Vergangenheit und vor allem Großbritannien an sich begegnet er mit einer gewissen Distanz, in der er viele falsche Lebensabzweigungen nicht verhehlen kann. Auf Basis dieses Buches hat Star-Regisseur Danny Boyle übrigens die umstrittene Serie „Pistol“ gedreht, gegen die Johnny Rotten schon Zeter und Mordio wetterte. Rock’n’Roll will never die!
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