Rasanter Wandel

Almgeschichten, die uns den Spiegel vorhalten

Tirol
04.08.2022 18:00

Es gibt nur eine Konstante: die Veränderung. Eine eindrückliche Exkursion auf die Längenfelder Almen zeigt schonungslos die rasende Veränderung von Umwelt und Werten unserer Gesellschaft auf.

Die Welt ist anders geworden, auch auf den Almen – ganz anders. Die dramatische Veränderung dieses Tiroler Riesenhabitats von 121.000 Hektar, aber auch der eklatante Wertewandel der Menschen in der Moderne gerade in den letzten 60 Jahren interessiert die Ötztaler Museen. Funde und die Pollen von Kulturpflanzen in der Erde belegen, dass das Ötztal seit der Mittelsteinzeit kontinuierlich bewirtschaftet wurde. Um Weideland zu schaffen, prägten die Menschen durch Brandrodungen ein neues Landschaftsbild: die Almen.

Dorthin luden die Ötztaler Museen, genauer gesagt auf die Leck- und Innerbergalm hoch über Längenfeld, sozusagen zum Lokalaugenschein – begleitet von zwei Experten: dem Langzeithirten Franz-Josef Holzknecht und dem Almexperten Johannes Jenewein von der Abteilung Agrarwirtschaft des Landes Tirol. Los ging’s in Lehn, just an jenem Ort, von wo aus das Vieh früher auf die westlich von Längenfeld gelegenen Almen getrieben wurde. Wir mit dem Taxi, aber getrieben vom Wissensdurst.

Die Erderwärmung schob Vegetation 200 m höher
Auf der Leckalm auf rund 2000 Metern angekommen zeigt sich auch schon das Hauptproblem der meisten Tiroler Almen: die Verbuschung. „Im Laufe der Jahrzehnte haben sich Wacholder- und Almrosensträucher in einem irreparablen Maße ausgebreitet“, zeigt Holzknecht bei seinem „Heimspiel“ auf die Riesenfläche des Bergrückens, „im letzten Jahr starteten die in Schichten eingeteilten Bauern händisch eine Entbuschungsaktion. Maschinen sind untauglich.“ Der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Eine Ursache dieser Überwucherung weiß Johannes Jenewein: „Durch die Erderwärmung ist die Vegetation in die Höhe gestiegen. Die Waldgrenze beispielsweise hat sich um 200 Meter nach oben verlagert. Eben auch die von Wacholder und Almrosen.“

Zudem beginne die Wachstumsphase temperaturbedingt mehrere Wochen früher. Jenewein: „Die Vegetation hat um ein Drittel zugenommen, das heißt ganz einfach, wir bräuchten mehr Vieh.“ Aber in Zeiten von zunehmenden Nebenerwerbsbauern und Wolf wird sich das nicht spielen. Im Ötztal könne man sich eh glücklich schätzen, dass rund 3000 Schafe die Hochalmen „kurz halten“.

Von Käsekessel, Zentrifuge und „Kuhtaschen“
Wir bewegen uns in Richtung Innerbergalm und passieren drei aneinandergebaute, alte Gebäude. „Hirtenhütte, Notstall und Mistsammelstelle“, erklärt der frühere Hirte. Langsam wird klar, welch rasende Entwicklung das Leben der Menschen in einem historisch gesehenen Wimpernschlag erfahren hat. Früher hat man mit Sack und Pack, das heißt etwa mit Zentrifuge und Käsekessel, die Viehherde auf dem gesamten Triebweg begleitet, inklusive das Aufsammeln der „Kuhtaschen“, die man später als Düngung ausgebracht hat. Es war halt die Lebensgrundlage der Menschen, die es heute nicht mehr ist. Trotzdem seien noch alle 2100 Tiroler Almen bestoßen, weiß Jenewein, natürlich habe man die „schwierig“ zu bewirtschaftenden zurückgelassen.

Franz-Josef Holzknecht zeigt das Unvorstellbare: Diese Bergwiesen über 2000 m wurden allesamt gemäht. (Bild: Daum Hubert)
Franz-Josef Holzknecht zeigt das Unvorstellbare: Diese Bergwiesen über 2000 m wurden allesamt gemäht.

Das Unvorstellbare liegt erst 60 bis 70 Jahre zurück
Nach einer kulinarischen Stärkung auf der Innerbergalmhütte bewegen wir uns almeinwärts. Dort wartete auf uns das Erstaunlichste. Holzknecht zeigt wieder auf den Bergrücken, diesmal aber auch auf die kleinen, grünen Flecken mitten im Fels, allesamt sicher über 2200 Meter Seehöhe. „Das sind alles Bergmähder.“ Almmeister Daniel Kneißl zieht aus dem Rucksack eine Katasterkarte mit geschätzten hundert Parzellen. „Alles private Mähder, die früher bewirtschaftet wurden“, erklärt er. „Wann früher?“, wollen wir wissen. Kneißl: „Wahrscheinlich bis in die 1960er Jahre.“ Das Heu der Felsmähder habe man herunter getragen, ergänzt Jenewein, man hätte es schon hinunterwerfen können, aber es hätten Halme am Felsrücken hängen bleiben können. Das Heu habe man entweder in einem Hüttchen oder unter einem Felsvorsprung gelagert.

Und spätestens die Vorstellung, im Winter auf die Alm zu waten, um das Heu zu holen, führt uns den eklatanten Werte- und Lebenswandel vor Augen. Unvorstellbar! Und das noch vor 60 bis 70 Jahren. Würde das nicht beispielsweise die Sicht jener relativieren, die nach einigen Monaten Homeschooling von einer „Lost Generation“ sprechen?

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