Die Situation beim von russischen Truppen besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja spitzt sich zu: Nach dem Beschuss der Anlage wurde ein Reaktor heruntergefahren. Durch die Luftangriffe sei das „Notfallschutzsystem“ ausgelöst worden, meldete die ukrainische Atombehörde Energoatom. Weiterhin besteht erhöhte Brand- und Strahlungsgefahr. Indes sollen einem Bericht zufolge russische Soldaten das Kraftwerk vermint haben.
Das kremlkritische Online-Medium „The Insider“ berichtet, dass russische Truppen Sprengfallen im Kraftwerk angebracht haben. Auf einem Video, das zu Wochenbeginn gedreht worden sein soll, sind russische Militärlaster zu sehen, die auf das Fabrikgelände fahren und dort Güter abladen (siehe unten).
Reaktorblöcke sollen vermint sein
Dem Bericht zufolge wurde die explosive Fracht in der Nähe der Reaktorblöcke und beim Maschinenraum platziert. Zuvor soll das russische Militär bereits das Gebiet rund um das AKW vermint haben. Seit Wochen gibt es Kritik, dass die russischen Truppen das größte Kernkraftwerk Europas als Schutzschild für die eigene Artillerie nutzen, die von dort aus ukrainisch kontrolliertes Gebiet beschießt.
„Die EU verurteilt Russlands militärische Aktivitäten rund um das Nuklearkraftwerk Saporischschja. Das ist ein ernster und unverantwortlicher Bruch atomarer Sicherheitsregeln und ein weiteres Beispiel für Russlands Nichtbeachtung internationaler Normen“, erklärt dazu der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Er forderte Zugang für die Internationale Atombehörde (IAEA) zur Anlage. Das hat die Ukraine aber bisher abgelehnt, da ihrer Ansicht nach dadurch die Besetzung durch Russland legitimiert werden würde.
Anlagen beim Kraftwerk getroffen
Am Freitag war die Anlage in der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja durch einen Beschuss in Brand geraten, konnte aber gelöscht werden. Durch die Angriffe wurden eine Stickstoffanlage und ein Gebäude, in dem Sicherheitssysteme untergebracht sind, beschädigt. Die Energieversorgung in der Stadt fiel teilweise aus. Während Moskau ukrainische Truppen dafür verantwortlich machte, sprach Kiew davon, dass die Russen das Gelände selbst beschossen hätten. Unabhängig sind die Angaben nicht zu überprüfen.
„Das Atomkraftwerk Saporischschja arbeitet mit dem Risiko einer Verletzung der Normen für Strahlen- und Brandschutz“, erklärte die Atombehörde Energoatom auf Telegram. „Es bleibt das Risiko, dass Wasserstoff austritt und sich radioaktive Teilchen verteilen, auch die Brandgefahr ist hoch“, warnte sie. Das ukrainische Kraftwerkspersonal versuche, auch unter diesen Bedingungen die atomare Sicherheit der Anlage zu gewährleisten. Die Bedrohung aufgrund der Besetzung des Kraftwerks durch russische Truppen bleibe allerdings hoch. Für Österreich bestehe derzeit keine Gefahr, meldet das Klimaschutzministerium.
Der Angriff „unterstreicht die sehr reale Gefahr einer nuklearen Katastrophe, die die öffentliche Gesundheit und die Umwelt in der Ukraine und darüber hinaus bedrohen könnte“, sagte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi am Samstag. Er hielt fest, dass auf dem Gelände Schäden entstanden seien, dass aber die Reaktoren unversehrt seien und keine Radioaktivität ausgetreten sei. Der Besuch eines IAEA-Teams vor Ort würde helfen, die nukleare Sicherheit vor Ort zu stabilisieren und unabhängige Informationen über den Zustand des AKWs zu liefern. Grossi forderte die Ukraine und Russland auf, endlich gemeinsam einen solchen Einsatz möglich zu machen.
Moskau: 600 Ukrainer getötet
Indes wird im Süden der Ukraine weiter heftig gekämpft. Das russische Militär hat nach eigenen Angaben mit Luft- und Artillerieschlägen fast 600 ukrainische Soldaten getötet. „Nahe der Ortschaft Bilohirka im Gebiet Cherson wurden durch Luftschläge und Artilleriefeuer der zeitweise Standort der 46. ukrainischen Luftsturmbrigade getroffen“, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Samstag. Mehr als 400 „Nationalisten“ seien getötet worden.
Daneben seien durch Raketenangriffe an der Front in Cherson mehr als 70 weitere Soldaten getötet und 150 verletzt worden. Im Gebiet Dnipropetrowsk seien durch Raketenschläge mehr als 80 „ausländische Söldner“ gestorben. Konaschenkow berichtete zudem, dass eine Batterie von ukrainischen „Olcha“-Raketenwerfern sowie HIMARS-Systemen zerstört worden sei. HIMARS sind präzise US-Mehrfachraketenwerfer mit hoher Reichweite. Moskau hat schon in der Vergangenheit mehrfach gemeldet, derartige Waffen außer Gefecht gesetzt zu haben. Kiew und Washington dementierten dies dann später. Auch für den aktuellen Bericht gibt es keine unabhängige Bestätigung.
Ukrainer haben im Süden die Initiative
Nach Einschätzung des britischen Militärgeheimdienstes steht der Krieg unmittelbar vor einer neuen Phase. Die meisten Kämpfe verlagerten sich demnach an eine fast 350 Kilometer lange Front, die sich im Südwesten parallel zum Dnjepr von der Gegend um Saporischschja bis nach Cherson erstreckt. Während im Donbass-Gebiet im Osten die moskautreuen Truppen weiter vorstoßen, haben im Süden jetzt die Ukrainer die Initiative. Laut Kiew konzentrieren sich die russischen Truppen darauf, ihre Positionen zu verteidigen. Die Kommandostelle Süd des ukrainischen Militärs berichtete, mindestens sechs russische Waffen- und Munitionsdepots sowie zwei Kommandopunkte im Gebiet Cherson vernichtet zu haben. Auch für diese Angaben gibt es keine unabhängige Bestätigung.
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