Wenn es um nachdenklichen und originären Electro-Pop voller Atmosphäre und Botschaften geht, kommt man nicht mehr an Oehl vorbei. Frontmann Ari Oehl hat sich in der Pandemie von Partner Hjörtur Hjörleifsson getrennt und das zweite Album „Keine Blumen“ quasi im Alleingang eingespielt. Ein bittersüßer Parforceritt durch die biblischen Themen Tod, Schuld und Verdrängung, der erst gar kein verklärtes Weltbild aufkommen lassen will. Im großen Interview erzählt uns der Musiker, wie man als Vater in eine ungewisse Zukunft blickt, warum Krisen zu Veränderungen führen und ein Ende des Daseins gar nicht so schlecht sein muss.
„Krone“: Ari, das neue Oehl-Album „Keine Blumen“ findet ohne deinen langjährigen Partner Hjörtur Hjörleifsson statt. Wie kam es schlussendlich zur beruflichen Trennung?
Ari Oehl: Ich hatte in der Pandemie schon die EP „100% Hoffnung“ allein geschrieben, weil wir die erzwungene Trennung durch Corona ernstgenommen haben. Dann haben sich zwei Jahre lang Songs angesammelt, die ich auch alleine geschrieben habe. Er hatte letzten Sommer andere Angebote und Engagements und er wäre nur mehr Posterboy des Projekts gewesen, hatte die Songs nicht mehr mitgeschrieben. Das war beim Debüt ganz anders. Ich habe zudem alles Technische nach Hause verlagert und zu produzieren begonnen - so erübrigte sich das gemeinsame Schreiben. So kann er nun seine Projekte machen und das hat sich für beide gut ergeben. Es war am Sinnvollsten, einen klaren Schnitt zu machen, weil ihn das für andere Projekte freispielt. Ich schließe aber nicht aus, dass Hjörtur mich live wieder mal unterstützt.
Damit einhergehend war dir klar, dass „Keine Blumen“ ein Soloprojekt wird und du keinen anderen Partner suchen wirst?
Es ist nicht reizvoll ein Soloact zu sein, weil alles auf einem landet. Aber die letzten zwei Jahre waren eine gute Übung dafür und ich habe viel gelernt. Hjörturs Charakter und seine Persönlichkeit sind nicht ersetzbar.
Wie sieht deine Band hinkünftig aus?
Wir sind zu fünft auf der Bühne. Es wird noch weniger Backing Tracks als früher geben. Katrin Paucz ist zu Bilderbuch abgewandert und ist auch bei Sharktank, aber sie wurde sehr gut ersetzt. Ihren Aufstieg muss ich natürlich akzeptieren. (lacht) Die Band ist halbneu, aber sehr gut gemischt. Produzent Niklas Apfel ist auch in der Liveband dabei. Der Verkauf für die Herbsttour ist recht okay, ich bin ziemlich optimistisch. Unsere Botschaft, dass die Hoffnung immer überwiegen muss, hat offenbar so viele Menschen bewegt, dass schon ein Drittel der Tour verkauft ist. Wenn sie stattfindet, wird sie wohl auch voll sein, was mich sehr glücklich macht.
Ist Oehl mittlerweile mehr ein Movement als eine bloße Band?
Ich merke es vor allem über die Social-Media-Kanäle. Das Album fühlt sich wie eine musikalische Umarmung an, das kam schon mal als Feedback. Es schreiben regelmäßig Leute, wie die neuen Songs sie begleiten und so mache ich gerne auf dieser Schiene weiter. Das Album und ich selbst brauchen die „Keine Blumen“-Tour, um die Umarmung zurückzukriegen. Wenn man so fragile und persönliche Songs in die Welt schickt, braucht man das Feedback, dass die Leute das auch annehmen.
„Keine Blumen“ ist der Titel des Albums und des letzten Songs darauf. Blumen sind per se was Schönes, du willst sie aber nicht haben…
Im Lied geht es um eine Person, die im Sterben liegt und als humorvolle Geste meint, sie brauche jetzt keine Blumen und man solle sie sich lieber fürs Grab sparen. Das hat mit der Kriegsgeneration zu tun, die einen ganz eigenen Zugang zum letzten Augenblick hat. Das habe ich persönlich in meinem Umfeld miterlebt. Es war sehr berührend und irgendwie auch witzig. Man liegt tagelang im Sterben, aber das ist die Realität und damit muss man umgehen. Die Themen Abschied und Sterben sind sehr präsent, ganze fünf Lieder handeln davon. Sterben ist auch ein Symbol für das Verabschieden im Allgemeinen und eine Übung dafür, die wir in dieser Zeit brauchen. Wir merken, dass es ökonomisch und ökologisch nicht so bleiben kann. Alles wird immer schlechter und wir spüren das Jahr für Jahr. Man kann also üben, sich ein bisschen vom Luxus zu verabschieden, aber auch den Moment noch zu genießen. Abschied kann etwas Schönes sein. Ansonsten geht es am Album um das männliche Privileg und viele gesellschaftliche Vorteile - auch da sind Abschiede wichtige Themen. Das gilt auch für Musiker. Bei Festivals gibt es nur wenige Slots und bei vielen sind 50 Prozent mit Frauen und FLINTAS* besetzt - so wird mein Raum dafür kleiner. Das ist für mich absolut in Ordnung, aber man muss sich damit auseinandersetzen und akzeptieren, dass man sich in vielen Bereichen einschränken wird müssen.
Ein bisschen klingt das aber auch danach, als würdest du die berühmte Oehl-Hoffnung sukzessive verlieren und auch resignieren.
Ganz im Gegenteil. Irgendjemand sagte einmal, dass jedem Anfang ein Ende vorausgeht. Mit jeder Übung lernt man Neues dazu und die Resilienz ist etwas, das wir in diesen Tagen üben müssen. Die Hoffnung ist, dass wir gestärkt in die kommenden Jahre gehen, denn anders geht es nicht. Zu sagen, alles würde besser werden, das ist irr. Daran glaube ich nicht. Die Hoffnung ist aber trotzdem, dass wir uns die Werkzeuge aneignen, mit sowohl gesellschaftlichen als auch ressourcentechnischen Veränderungen umgehen zu können. Wir haben eine Generation, die sich im Leben sinnlos vorkommt und viele psychische Krisen hat. Wir müssen versuchen, eine gewisse Bescheidenheit zu üben, vom Konsum wegkommen und mit einfacheren Dingen zufrieden zu werden. Der Konsum macht Menschen nicht glücklich, von diesem Gedanken müssen wir uns freimachen. Meine Oma hatte nach dem Krieg nichts und trotzdem eine schöne Kindheit, weil sie viel draußen war und mit der Familie gemacht hat. Schwierige Zeiten bergen das Potenzial, zu uns zu finden.
Durch die Inflation und die galoppierenden Preissteigerungen wird man sogar gezwungen, das Konsumverhalten zurückzuschrauben.
Die Krise schafft die Möglichkeit, als Gesellschaft zu wachsen. Solange alles immer kommerziell wächst, wird sich nicht viel ändern, aber jetzt muss sich wirklich was bewegen.
Warum kommt der Mensch immer erst dann auf Veränderungen und Verbesserungen drauf, wenn es eigentlich schon zu spät ist? Siehe etwa die Modifizierungen in der Energiegewinnung seit dem Ukraine-Krieg.
Der Mensch ist ein großer Verdränger, was eine große Kunst ist. Im „Schönland“ geht es darum, das Leben bewusst zu genießen, egal was kommt. Wenn man erwachsen ist, muss man das Schönland aber auch mal verlassen und Verantwortung übernehmen. Man schiebt alles auf die Politik und die wiederum auf das Konsumverhalten - ein ewiges Hin und Her. Es soll immer die andere Seite machen. Beim Klimathema haben die Menschen die Hoffnung, dass der technologische Fortschritt alles lösen wird. In den 70er-Jahren hat man schon von Wasserstoffautos geträumt, aber die Verursacher hatten gar nicht das Interesse, dahingehend was zu lösen, weil auch die Ölindustrie dranhängt. Wir sind schon auch sehr naiv.
Ist es heute umso wichtiger, sich sein eigenes Utopia zu bauen, um bei Bedarf dorthin flüchten zu können?
Unbedingt - wie etwa bei Konzerten. Da gehen wir hin, um die Belastung für zwei Stunden hinter uns zu lassen. Für einige ist es eine reinigende Messe, für andere eine gute Tanzzeit. Kunst und Kultur können in einer schwierigen Zeit Räume bieten, um loszulassen und die Schwere zu verlieren. Die Musik gibt mir einen Rahmen, dass ich nicht angegriffen werde. Sie gibt ein gutes Gefühl, auch wenn sie textlich auf schwere Themen anspricht. Bei Oehl herrscht der Gegensatz, dass die Musik immer fröhlicher daherkommt als die Inhalte. Das ist einerseits ein Weg, um die Leute thematisch zu infiltrieren, andererseits habe ich aber mit leichterer Musik einen besseren Zugang. Das ist ja wie bei der Feedback-Kultur: ich beginne vor dem schlechten Feedback mit einem Kompliment und schreie die Leute nicht gleich an. (lacht)
In der Single „Ruh“ befasst du dich mit dem Tod und verwendest Begriffe wie Kohle, Eisen und Erz. Sehr rustikale und rurale Wörter.
Das Ressourcenthema und die Schätze der Erde sind heute ein sehr großes Thema. Wir Menschen landen am Ende des Tages ja auch wieder unter der Erde, was für mich ein starkes Bild ist. Bodenschätze sind recht wertvoll und meine 95-jährige Oma hat im Schrank einen schönen Zweiteiler, den sie noch nie getragen hat. Das ist der feinste Zwirn und 400-Euro-Schuhe dazu. Sie ist ansonsten sehr einfach, aber für das Leben nach dem Tod richtet sie sich selbst wie einen Bodenschatz her und das ist für mich ein schöner Gedanke. Eine Beerdigung kostet Tausende Euro und so zelebrieren wir das Zurückgehen in die Erde. Der Kreislauf von Rohstoffen ist für mich etwas Witziges und auch Trauriges. Ich weiß nicht, ob unsere Generation sich einen guten Anzug dafür aufhebt. Wir würden ihn jetzt tragen und uns dann verbrennen lassen. Durch den Verlust von Religiosität verlieren wir auch den Zugang zum Thema Sterben. Wenn du Kirchgänger bist, hast du mehrmals im Jahr die Themen Tod und Auferstehung. Die Beschäftigung mit dem Tod ist einfach nicht mehr da, weil wir nicht in die Kirche gehen. Tote sind für uns Zahlen und persönliche Schicksale. Das Alter ist auch ein spannendes Thema. Nicht nur über die Trauer zu schreiben, sondern die Menschen in dieser Phase ihres Lebens auch zu Wort kommen zu lassen und den Witz darin zu erkennen.
Nirgendwo wird so viel gelitten wie im Christentum und in der katholischen Kirche. Vielleicht möchte sich die jüngere Generation einfach von diesem schweren Joch befreien?
Das Grundthema „wir sind schuldig“ kommt gerade beim weißen CIS-Mann zurück. Es wird auch gesellschaftlich verlangt, dass man mit gesenktem Blick mit der eigenen Schuld umgeht. Sei es beim Rassismus, beim Geschlecht Mann mit all seinen Privilegien oder dem Feminismus im Allgemeinen. Dazu gibt es in der Musik gerade eine große Trans-Debatte - überall geht es darum, wer sich schuldig macht. Wenn du deine eigene Schuld in vielen Themen nicht siehst, kannst du nicht auf Augenhöhe kommunizieren. Das ist für mich interessant, weil es einen religiösen Ansatz hat. In der Kirche heißt es auch, dass wir schuldig sind und mit dieser Schuld arbeiten müssen. Der Gedanke, dass man beichten geht, ist verloren. Wir trauen uns keine Sünden mehr zu und fühlen uns komplett rein. Ich will nichts Kirchliches verherrlichen, aber es ist interessant, dass wir uns in einer progressiven Szene viele Gedanken über Schuld und Sühne machen. Nur eben auf einer anderen Ebene.
Das ist gerade in der Musik ja ein diametral anderer Ansatz als früher. Der Rock’n’Roll hatte ganz andere Regeln. Da war das ständige Versündigen quasi Pflicht.
Diese ganzen Figuren gibt es aber nicht mehr. Heute hat eine schwarze Frau wie Beyoncé ein großes Standing oder ein Harry Styles, der nicht so ein Typus Gabalier ist. Die Helden sind ganz andere geworden.
„Bis einer weint“ heißt eines deiner Lieder und das sagt man normal zu Kindern, die nicht aufhören zu kämpfen und zu streiten. Du hast es als Metapher für die Kriegstreiberei und das unaufhaltbare maskuline Gegockle in dieser Welt verwendet.
Die Reflektion und das Aufarbeiten spielen keine Rolle. Es geht um die Mentalität „es gibt nur ein Gas und zwar Vollgas“. Das ist auch so ein typisches Männerding. Egal, was auf der Welt passiert, wir machen einfach so weiter, denn es muss ja gehen. Trump hat das perfektioniert. Es gab niemals für etwas eine Entschuldigung. Er hat sich bis zum Sturm auf das Kapitol alles so hingebogen, wie er es brauchte. Die Metapher trifft auf Leute zu, die diese Jungsspiele betreiben bis zu einem Punkt, der nicht mehr lustig ist. Zum Glück ist es in der Kunst en vogue, dass Männer über ihre Gefühle sprechen und auch Schwächen zeigen.
Eine emotionale Verwundbarkeit kann eine Superkraft sein. Den unverwundbaren Helden zu spielen ist anstrengend und das macht angreifbar. Wenn man aber seine Probleme zugibt und eigene Fehler eingesteht, dann ist man in der Gesellschaft viel offener. Schwächen zu zeigen und sich einmal ehrlich zu entschuldigen macht eigentlich unverwundbar. Es ist die beste Art, sich in einem Diskurs zu begegnen. Dort kann man ansetzen. Putin wird sich für den Krieg nicht entschuldigen, das ist absurd und wird nie passieren. Aber in der Gesellschaft wird heute zwischen Narzissten und Nicht-Narzissten unterschieden. Viele glauben, ihre Realität wäre die einzig richtige und alle anderen wären schuld. So kommt es zu Spaltungen zwischen Menschen, die reflektieren und jenen, die die allgemein- und immergültige Wahrheit für sich gepachtet haben.
Da sind wir dann schon beim Opener des Albums, „Es tut mir leid“. Quasi schon zu Beginn die Entschuldigung.
Ich sehe das als ein gutes Voranstellen. Mein Sohn ist vier Jahre alt und ich möchte mich bei ihm entschuldigen, in welche Welt ich ihn gesetzt habe. „In diese Welt setzt man keine Kinder“, das haben schon die Hippies gesagt, aber ich verstehe jetzt natürlich, dass man Kindern erklären muss, warum alles schlechter ist und in näherer Zukunft nicht besser wird. Bei der heutigen Medizin wird mein Sohn vielleicht 100, aber ich weiß nicht, ob die Welt dann so geil ist. Meine Generation hat es versucht und versagt, das tut mir leid.
Hat man als Familienvater einen anderen Blickwinkel auf die Welt und ihre Lage, als alleinstehende Hipster, die in Wien-Neubau wohnen und gerne viel urteilen, ohne selbst viel zu tun?
Ich hatte einmal eine Diskussion mit einem Musiker, wir waren beide sichtlich betrunken, und er meinte, wir müssten alles teilen und alles aufgeben. Ich will aber, dass mein Kind in Sicherheit leben kann. Dass ich eine Wohnung habe und das Kind dort schützen kann. Ich will, dass mein Kind ein möglichst sorgenfreies Leben hat. Zur Not schütze ich meine Burg und nehme in Kauf, dass es anderen schlechter geht. Meine Familie hat absolut Vorrang. Der Musiker kann diese Situation nicht so sehen, weil er keine Kinder hat. Diese emotionale Verantwortung spürt man schon stark, wenn man Vater ist. Einfach mal dahinleben geht sich nicht mehr so einfach aus. Wenn jemand keine Verantwortung für Kinder hat und nicht weiß, wie es ist, für diese Generation bereits mitzudenken, der kann zu einem gewissen Grad auch keine nachhaltigen Entscheidungen für die Gesellschaft treffen. Eine Carola Rackete kämpft an vorderster Front und entscheidet sich vielleicht bewusst deshalb dafür, keine Kinder zu haben.
Du hast dich bei unserem letzten Gespräch stark gegen den Social-Media-Wunderknaben El Hotzo ausgesprochen, weil du seinen Zynismus in seinem Humor nicht magst. Je schlechter die Weltlage wird, desto eher brauchen die Menschen Zynismus, um damit umgehen zu können. Hast sich deine Stimmungslage dahingehend auch schon verändert?
Ich bin ziemlich durch mit Social Media in diesem Bereich. Das erste Zeichen von Aufgeben ist, nur mehr über die Dinge zu lästern. Bei El Hotzo steckt viel Boshaftigkeit und Verzweiflung drinnen. Ich halte auch nichts vom Wort „Boomer“ oder diesen „Ok, Boomer“-Kappen, die Leute tragen. Das ist eine reine Provokation und ein Hochstacheln, aber wenn man Dinge verändern will, muss man mit Menschen reden und in den Diskurs gehen. Unsere Generation wird durch viele Themen sehr sensibilisiert und dadurch aggressiv. Wir müssen anfangen, etwas entspannter zu werden und die Aggressionen zurückzuschrauben. Und bei El Hotzo gibt es einen aggressiven Unterton, den man dann schwer los wird.
Die Fronten werden zunehmend verhärteter und man hat nicht mehr das Gefühl, dass sich Menschen in der Mitte treffen können.
Ich glaube aber, dass das immer schon so war. Ich bin froh, dass ich nicht in einer Zeitungsredaktion sitze und die ganze Zeit Twitter durchforsten muss. Das ist der toxischste Platz überhaupt, da werden permanent Shitstorms produziert. Andy Warhol hat ja gesagt, jeder wird in der Zukunft für 15 Minuten berühmt sein. Das war wohl ein Missverständnis und jeder ist für 15 Minuten berüchtigt. (lacht) Das ist die realistischere Sicht darauf. Die Frage ist, wie man damit umgeht? Weniger sagen um mehr gemocht zu werden ist zum Beispiel eine Strategie.
Shitstorms und Online-Stress gehen dann schnell über in psychische Probleme - dein Song „Mängelexemplar“ spielt darauf an. Da geht es grob darum, dass man sich nie gut genug fühlt.
Den habe ich mit Sophie Lindinger von Leyya geschrieben, die offen mit ihren Depressionen umgeht. Ich hatte noch nie eine, aber ich kenne solche Gefühle und Phasen zumindest im Ansatz. Ich wollte wirklich wissen, wie es sich anfühlt, wenn man gar nicht mehr aus dem Bett kommt, weil ich mir das absolut nicht vorstellen kann. Ich wollte mit dem Song und mit Sophie ein authentisches Bild davon kreieren. Aber auch die offene Tür der Selbstmordgedanken beleuchten. Viele Menschen kokettieren damit und das kann man thematisch einfach nicht wegleugnen. Manchmal ist für Menschen die Vorstellung, nicht mehr da zu sein, einfacher. Das ist ein Wahnsinn.
Aber kannst du diese Thematik überhaupt so nachfühlen und nachvollziehen wie Sophie, die direkt Betroffene ist?
Es hilft manchmal auch, eigene Gefühle zu benennen. Ich bin generell nicht so der emotionale Typ und es ist für mich schwierig, aber ich kann viele Krankheiten nachvollziehen. Es ist aber auch okay, wenn man nicht alles empathisch fühlen kann.
„Vogelhaus“ ist auf dem Album für mich der Moment der Liebe, Geborgenheit, Schutz und Heimat - quasi eine Ode an die Nostalgie.
Da geht es um den Blick in die Kindheit und den schönen Ort von früher. Helmut Berger sagte mal, die erste Hälfe des Lebens schaut man nach vorne und die zweite Hälfte des Lebens zurück. Eine Rückschau kann etwas Positives sein und Nostalgie ist eine der stärksten Kräfte. Das macht die Werbung die ganze Zeit. Sie zeigt uns etwas, das wir romantisch erlebt haben oder im Alter einmal erleben wollen. Die romantische Vorstellung der Liebe ist nicht die junge, sondern die alte. Egal wie progressiv wir sind, jeder möchte im Alter nicht allein sein und jemanden lieben, mit dem man alles durchgestanden hat. „Vogelhaus“ ist eine Rückschau auf die eigene Kindheit und Geborgenheit in der Familie. Man ist für einige Jahre komplett geschützt vor dem Wahnsinn der Welt und kann sich in Ruhe entfalten. In einer so unsicheren Zeit ist die Nostalgie ein wichtiger Ort. Mein Sohn fragt mich nach vielen Themen und ich biete ihm immer eine Antwort, die ihn schützt. Ich will einen Vierjährigen nicht verunsichern und das haben meine Eltern mit mir auch immer sehr gut gemacht. „Vogelhaus“ ist auch ein „Schönland“.
Wenn man immer zwischen Nostalgie und Zukunft lebt, dann vergisst man aber auch schnell, in der Gegenwart zu existieren…
Ich lebe eigentlich nur im Moment. Das Zurückschauen ist ein künstlerisches Mittel und ich bin kein Nostalgiker. Die gute alte Zeit ist ja auch gar nicht so verkehrt. In unserer Generation oder der unserer Eltern war alles ziemlich gut. Man wusste seit den 60er-Jahren, dass man studieren konnte, das war bei meiner Oma noch unmöglich. Insofern ist das ein realistischer Rückblick. Wenn die Aussichten gut sind, ist auch die Rückschau besser. Irgendwann sind die Menschen dann im Studium, fühlen sich unsicher und haben vielleicht einen Job, der sie nicht zufriedenstellt. Die Lösungen, die das Erwachsenenleben anbietet, sind nicht annähernd so schön, wie man sie sich als junger Mensch vorstellt. Da denkt man sich, dass die Schule so schlimm wäre, weiß aber noch nicht, dass diese Zeit eigentlich der reinste Luxus ist, weil alles egal ist, solange man durchkommt. Man hat das schönste Leben, dieses Spielerische hat man dann nie mehr. Als Künstler können wir so tun, als wäre alles ein Spiel. Diese Kraft fließt in die Musik ein. Ein Teil unseres Jobs ist, nicht im Realen zu leben. Das kann soweit gehen, dass man eine künstlerische Person annimmt, die zur echten wird.
„Keine Blumen“ weist also eine bunte Palette an Themen und Ideen auf. Was ist denn nun der rote Faden des Albums? Die Kernaussage?
Es geht um das Umgehen. Einerseits heißt es, sich verabschieden zu lernen, aber auch einen Neuanfang mit zu konstruieren. Wie gehen wir mit allen Themen auf dieser Welt um? Diese Frage stellt sich in allen Songs. Das Album geht einmal quer durch von einem riesigen Blick auf die Welt in den persönlichen Mikrokosmos. Aus welcher Sicht sieht man die Dinge und wie verarbeitet man sie? Darauf wollen die Songs hinaus.
Hast du zu den Themenkomplexen Tod, Jenseits und Ableben nun eine andere Sichtweise gewonnen?
Der Tod ist ein wichtiges Thema, das man nicht auf Dauer verdrängen kann. Ich dachte immer, alles wird immer besser und die Menschen werden immer leben. Vielleicht leben wir ewig, es gibt keinen Hunger mehr und der Weltfrieden kommt. Mittlerweile sehen wir die Welt eher so, dass es die Menschen vielleicht gar nicht mehr gibt. Vielleicht leben wir jetzt gerade noch in der besten Zeit, aber das ist schon auch ein zynischer Gedanke. Vielleicht wäre es sogar gut, wenn es einmal aufhört. Da steckt ein ehrlicher Zynismus dahinter. Wie wäre es, wenn wir niemals mehr Kinder kriegen? Wir teilen uns die Ressourcen auf und dann ist es irgendwann vorbei? Mich befriedigt es auch total, dass ich weiß, ich bin hier keine 500 Jahre mehr. Im Alter dürfen wir das Leben noch genießen und dann war es das irgendwann einmal. Für mich hat es sogar etwas Befriedigendes zu wissen, dass ich nicht ewig leben werde.
Live quer durch Österreich
Am 29. September stellt Oehl das neue Album „Keine Blumen“ im Wiener WUK vor, weitere Konzerte quer durch Österreich folgen. Unter anderem im St. Pöltner Cinema Paradiso, dem Dornbirner Spielboden, dem Dom im Berg im Graz und dem Linzer Posthof. Alle genauen Termine und Tickets dafür gibt es unter www.oehlmusik.com.
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