Gastkommentar

Martin Grubinger senior zum Dirigenten Currentzis

Salzburg
24.08.2022 07:00

Teodor Currentzis - ein Künstler und seine Kunst zwischen Schein und Sein. Der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis, auch bei den Salzburger Festspielen hofierter und umjubelter Star, steht seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine in der Kritik. Es geht nicht nur um Fragen des Geldes, sondern auch um die Verantwortung der Kunst. 

Das von Teodor Currentzis neu gegründete Orchester „Utopia“ ist vermutlich mit dem Gustav Mahler Jugendorchester, dem Simon Bolivar Orchester und anderen Jugendorchestern vergleichbar. In diesen Klangkörpern werden der Idealismus und die Begeisterungsfähigkeit hervorragender junger Musiker schamlos ausgenützt.

Natürlich ist die Mitwirkung freiwillig. Aber unter dem Deckmantel der Jugendförderung wird professionell interpretierenden Künstlern das Honorar vorenthalten. Eine neoliberale Arbeitswelt schlimmster Form.

Teodor Currentzis will uns also mit seinem neuen Orchester auf utopische Klangreisen mitnehmen, mit all den Nuancen des Chiaroscuro, den Völker verbindenden Momenten, den Sensibilisierungsstrategien für die erarbeitete Komposition und dem Unikatsklangmerkmal eines neu geschaffenen Klangkörpers.

Martin Grubinger senior ist Lehrer an der Universität für Musik und darstellende Kunst „Mozarteum“ in Salzburg und freischaffender Künstler. Sein Lebensmotto: „Ohne Kunst war das Leben ein Irrtum.“ (Bild: zVg, Krone KREATIV)
Martin Grubinger senior ist Lehrer an der Universität für Musik und darstellende Kunst „Mozarteum“ in Salzburg und freischaffender Künstler. Sein Lebensmotto: „Ohne Kunst war das Leben ein Irrtum.“

Das alles umzusetzen bedingt einen Dirigenten und Künstler, ausgestattet mit einem schier unerschöpflichen Sensorium für Empathie, Weitblick, analytisches Denken, detailgetreue Analyse, gereifte Menschenkenntnis und Menschenführung, und einen universellen Geist.

Im Umgang und bei der Bewertung des russischen Diktators und Menschenfeindes scheinen Currentzis diese Voraussetzungen abhanden gekommen zu sein beziehungsweise werden sie aus opportunen Gründen ausgeblendet.

Barbarei, totale Einschränkung der Menschenrechte, Überwachung und Repression der Bürger, Verfolgung, Vergiftung und Tötung von Oppositionellen und Andersdenkenden, Missachtung territorialer Grenzen, Lüge, Intrige und Manipulation eines autokratischen Systems stehen auf der Tagesordnung. Den verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit allen diese antidemokratischen, antihumanen, despotischen und verbrecherischen Handlungen nicht zu erkennen, erkennen zu wollen, gestehe ich höchstens Politikern und Wirtschaftstreibenden zu, die aufgrund des schnöden Mammons nicht nur unsere demokratischen Werte, sondern sogar ihre Seele verkauft haben.

Fakten

  • 2000 Putin kommt an die Macht, Tschetschenien-Krieg  
  • 2003 Michail Chodorkowski wird inhaftiert, Juri Schtschekotschichin wird vergiftet und stirbt  
  • 2004 Anna Politkowskaja wird vergiftet  
  • 2006 Anna Politkowskaja erschossen
  • 2008 Krieg in Georgien  
  • 2013 Alexej Nawalny verliert seinen Status als Rechtsanwalt  
  • 2014 Krim-Annexion, drei Monate später großer Empfang von Wladimir Putin in der Wiener Hofburg. Die Repräsentanten des Staates Österreich verneigen sich und spaßen mit diesem Despoten. Es ist eine Schande!  
  • 2015 und 2017 Wladimir Kara Murza wird vergiftet  
  • 2020 Giftanschlag auf Alexej Nawalny  
  • 2021 Inhaftierung von Alexej Nawalny  
  • 24. Februar 2022 Überfall auf die Ukraine

Wie unsere damaligen und zum Teil heutigen Regierungsvertreter, so versucht auch Currentzis auf dem Stuhl der Diktatur und dem der Demokratie gleichzeitig zu sitzen. Sein Handeln ist getrieben von der Gier nach Erfolg und Ruhm und eine apologische Schleife von durchtriebenem Opportunismus. Wer sich 2014, nach Annexion der Krim durch Russland, per Dekret vom russischen Diktator die russische Staatsbürgerschaft überreichen lässt und noch im Mai 2022 für die russische Nomenklatura dirigiert, ist im demokratiepolitischen Sinne unglaubwürdig.

Von Künstler zu Künstler gesprochen: „Das ist würdelos und erschüttert mein Vertrauen zutiefst.“

Kunst darf sich nicht den Oligarchen unterwerfen
Die Ansprüche von Kunstschaffenden an sich selbst müssen absolut integer sein. Das ist keine Moralisierung, nein, das muss die Norm sein.

Sich politisch und historisch völlig inkompetent zu zeigen, mag man ja noch gelten lassen, aber die moralisch- menschliche Betrachtungsweise nicht bedacht beziehungsweise. nicht erkannt zu haben, ist völlig inakzeptabel.

Die Kunst darf nicht zu einer gefügigen Schwester der oligarchischen und kapitalistischen Wölfe im Schafspelz verkommen.

Das Dogma der westlichen Staatenlenker „Wandel durch Handel“ hat zu einer demokratiepolitischen Sepsis geführt. Wir haben uns gegenüber den Autokratien kompromittiert und deshalb unsere ideologische Glaubwürdigkeit verloren. Jegliche Entscheidungen wurden und werden nach ökonomischen Bedürfnissen und Interessen getroffen. All das führt zu einem Marasmus unseres über Jahrhunderte entwickelten Werteorganismus.

Die Diktaturen aber haben diesen, von nicht zu sättigender Gier getragenen ökonomischen Austausch dazu benutzt, die vorhanden gewesenen Fünkchen an eingeforderten Menschenrechten völlig auszulöschen, die Opposition im Land auszuschalten, einen perfekten Überwachungsstaat zu schaffen, das militärische Potenzial zu modernisieren und hochzurüsten.

Der histologische Befund lautet also: Karzinom in alle Richtungen strahlend.

Die daraus resultierende Forderung müsste also heißen: Handel, aber nur bei Wandel.

Um demokratiegefährdende Fehlentwicklungen zu verhindern, müssen wir unseren Wertekompass neu einstellen und alle unsere Entscheidungen in moralischer, ethischer, ökologischer, ökonomischer und humanistischer Hinsicht in einer seismographischen Werteskala einordnen.

Der griechisch-russische Dirigent Currentzis steht seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine in der Kritik. (Bild: APA/BARBARA GINDL, Krone KREATIV)
Der griechisch-russische Dirigent Currentzis steht seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine in der Kritik.

Das immer wieder Innehalten und Reflektieren ist ein zwingender Kontrapunkt in dieser schnelllebigen, alles überrollenden Zeit. Die Künste könnten Brennglas, Fieberthermometer und Wegweiser zugleich sein. Sie reflektieren Vergangenheit und Gegenwart und weisen daher als Korrektiv in eine Zukunft, die wir dadurch lebenswerter, sozialer, humaner, friedfertiger, gerechter und deshalb auch nachhaltiger, erfolgreicher und prosperierender gestalten können. Deshalb müssen wir die Künste, sprich ihre „staatstragenden“ Vertreter, wieder dauerhaft aus unserer gesellschaftlichen Mitte heraus wirken lassen (jährlicher Involutionsprozess der Kunst nach dem Festspielsommer). Das muss losgelöst sein von Sponsoren und politischen Parteien, um Existenzangst und Unabhängigkeit nicht in eine Wechselbeziehung zu bringen. Die Freiheit der Kunst ist in unserer Verfassung verankert. Sie aber nur dann zu rechtfertigen, wenn sie einen ökonomischen Mehrwert hat, also umwegrentabel agiert, ist eine infame und degenerative Forderung vieler Repräsentanten unseres Staates.

Wenn wir aber daran festhalten, dass die Künste essenziell für den Fortbestand einer sich der Aufklärung verschriebenen Wertegemeinschaft sind, dann müssen wir für ein Forum sorgen, das den Künstlern einen ständigen, medial unterstützten öffentlichen Wahrnehmungsraum für Diskurs und Performance gibt. In seiner Festspielrede 2022 spricht der Schriftsteller Ilija Trojanow von der Kunst, die uns Erhöhung und Erlösung bereithält. „Wir können gegen die Fernsehbilder abstumpfen, gegen die Aufschreie der Kunst gibt es aber keine Immunisierung, solange wir noch Gefühle haben.“

Dem kann man nur beipflichten, würde aber behaupten, dass uns auch die Fernsehbilder nicht abstumpfen lassen, solange wir noch Gefühle haben.

Die Gesellschaft wieder beflügeln
Kunst darf aber nicht nur eine sich ständig repetierende, mikroskopisch psychoanalytische und narzisstische Selbstbetrachtung des Menschseins sein und damit für den Konsumenten zu einem Gefühlsopportunismus degenerieren. Vielmehr muss Kunst werteorientiertes Handeln proklamieren, Fehlentwicklungen im Hier und Jetzt aufzeigen, Hinterzimmer-Lobbyismus, Korruption, Intoleranz, Heuchelei und eine dekadente Politik anprangern, um die eigenen Ideen durch die wieder gewonnene Akzeptanz in der Gesellschaft zu beflügeln.

Es bedarf immer einer herausfordernden Kraftanstrengung, gegen den Strom schwimmen zu müssen, um Veränderungen herbeizuführen oder etwas Neues aufzubauen. Letztlich muss der alles bestimmende Wertekanon des Humanismus die Moralhygiene des Individuums und damit eines Volkes beziehungsweise einer Wertegemeinschaft ausrichten.

Wir müssen alles das aus innerer Überzeugung immer wieder insistierend einfordern – von selbst wird es sich nicht manifestieren.

Die Künste als Gradmesser für unser Handeln und Tun. Für eine Menschheit, die nur eine Fehleinschätzung entfernt am Abgrund steht.

„Nicht die Bösen sind die größte Gefahr für die Menschheit, sondern die Guten, die das Böse zulassen“, hat Albert Einstein geschrieben.

Gastkommentar von Martin Grubinger senior

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