Punkrock in den edlen Gemäuern des Wiener Konzerthauses, ja geht das denn überhaupt? Und wie das geht! Altmeister Iggy Pop trotzte Freitagabend vor ausverkauftem Haus mit siebenköpfiger Band seinen 75 Lebensjahren und fegte stimmgewaltig und physisch aktiv durch mehr als 50 Jahre Musikgeschichte.
Es ist nicht passgenau überliefert, ob die altehrwürdigen Grundmauern des Wiener Konzerthauses schon einmal schwer gebeutelt wurden, doch wenn das in der mittlerweile 109-jährigen Geschichte des Hauses jemals der Fall war, dann definitiv gestern, Freitagabend. Dort, wo sich für gewöhnlich Klassik- und Jazzgrößen die Klinke in die Hand geben, gab es schon immer Ausritte in popkulturellere Sphären. Die Wiener Death-Metal-Legenden Pungent Stench etwa nahmen hier in den Kellern 1991 ihr bahnbrechendes Zweitwerk „Been Caught Buttering“ auf, kurz vor der Pandemie durchzogen Camo & Krooked die Gänge mit ihrem beatlastigen Drum & Bass. Auch die benachbarte Staatsoper ist dahingehend in der Gegenwart angekommen. Die Pet Shop Boys besangen dort etwa ihre berühmten Sünden und Modfather Paul Weller brachte kantiges Britpop-Feeling ins Opernhaus.
Aufbrechen von Normen
Vom Modfather Weller zum Godfather Iggy Pop ist der Weg auch nicht mehr weiter als von der Staatsoper ins Konzerthaus. Dort konnte Iggy nach mehreren Corona- und einer persönlichen Krankheitsverschiebung endlich sein nicht mehr für möglich gehaltenes Spezialkonzert abspulen. Die Programms-Kommunikation war im Vorfeld nicht allen klar und so mancher war sich bis zum Schluss nicht ganz sicher, ob good old Iggy hier eine deftige Rockshow aufs Parkett legt, doch wieder in den Freejazz abrutscht oder seinen streitbaren Kumpel Michel Houellebecq rezitiert. Von beidem keine Spur, hier regierte purer Rock’n’Roll. Die bienenfleißigen Konzerthaus-Teammitglieder waren ob der zahlreichen Dosenbiere, selbst gewutzelten Zigaretten und legeren Bekleidungsoptionen ein bisschen überfordert. Besondere Rabauken wagten sich gar mit kurzem Beinkleid in das prunkvolle Areal, doch der Abend stand ohnehin ganz im Zeichen des Aufbrechens jeglicher Normen.
Nachdem seine siebenköpfige Band ein durchaus anspruchsvolles und hypnotisches Intro samt Beamer-Einblendungen vergangener Livetaten absolvierte, hüpfte der agile Iggy auf die Bühne, um schon beim Opener „Five Foot One“ das schwarze Sakko auf den Boden zu werfen, das ohnehin nur Ballast für die Anarchie ist. Das Publikum hielt es einstweilen gefühlte 20 Sekunden auf den Sitzen, dann wurde in Scharen und ohne System nach vorne geeilt, um dem Helden so nah wie nie zuvor zu sein. Iggy tänzelte über die Bühne, griff immer wieder andere Hände und interagierte mit dem Auditorium souverän wie ein Dompteur. Ein paar Minuten später gab es mit „T.V. Eye“ den ersten Stooges-Klassiker zu bestaunen und spätestens hier brachen alle Dämme. Die frühen Songs wurden von zwei Bläsern zusätzlich „beswingt“ und schossen präzise und vor allem laut aus den Boxen. Wie es dem Wiener Residenzorchester zu gleicher Zeit im angrenzenden Schubertsaal ging, lässt sich nur erahnen. Derart lautstarke und ungezügelte Euphorie ist man im klassischen Segment eher nicht gewohnt - panische Blaulichtsirenen wurden aber nicht vernommen.
Beeindruckende Performance
Die volle Konzentration auf Iggy zu lenken empfahl sich zu jeder Sekunde. Große Monologe sparte sich der Ur-Punk und nutzte die Zeit lieber, um Hit um Hit in die Logen zu feuern. Nach dem psychedelischen „The Endless Sea“ schoss er gleich zwei Jahrhundertsongs nach. Bei „Lust For Life“ fanden die rund 1800 Fans im restlos ausverkauften Konzerthaus endgültig ihren Tanzrhythmus und der legendäre Kulthit „The Passenger“ wurde so laut aus den Kehlen der Anwesenden gegrölt, dass sich der Zeremonienmeister eine partielle Pause gönnen durfte. Während des Refrains gesellte sich sogar ein Plüschpapagei auf der Bühne zu Iggy, der diese Geste mit einem sympathischen Grinsen erwiderte. Der Frontmann selbst mag zwar kein Mick Jagger sein, die Tanz-Performance und der ganze Energiehaushalt waren für einen gebrechlichen 75-Jährigen aber mehr als beeindruckend.
Den anständigen Mitarbeitern stand da längst der Schweiß auf der Stirn, denn sie wurden Zeuge von untypischen Verhaltensmustern. Iggy Pop etwa spuckte bei jeder Gelegenheit nonchalant auf die Bühne, so mancher Besucher versuchte ebenjene gar zu entern, wurde von den Securitys aber immer wieder erfolgreich daran gehindert. Möglicherweise drehte sich der erste Konzerthaus-Intendant Hugo Botstiber bereits mehrfach in seinem Grab. Vielleicht hat er aber auch Glück und vernahm dabei die düster-punkigen Klänge zum Top-Hit „I Wanna Be Your Dog“, während dem sich Iggy in devoter Hundestellung am Boden rollte und dem nihilistischen Wahnsinn noch eine Note zusätzlichen Irrsinn beimengte. Punk ist nicht etwa das stete Nachrumpeln der ewigen drei Akkorde, sondern das Aufbrechen von Normen und Provozieren des Establishments. Ein oberkörperfreier Quasi-Pensionist mit brutalen Songs und lasziven Bewegungen in einem gehaltvoll-introvertierten Haus der großen Künste kommt dem Grundgedanken des Genres jedenfalls wesentlich näher, als würde er seinen Körper über das Parkett in einem Gürtellokal schleifen.
Lasziver Leguan
„Ich bin ein alter Junge und werde bald sterben“ war dann die bittersüße Ansage für den knalligen „Death Trip“, der in die nächste Runde großartiger Klassiker leitete. „Sister Midnight“ kam Iggys geliebtem Jazz mit dissonanten Trompetenklängen am nächsten, „Mass Production“ und die Selbstständigkeitshymne „Free“ brachten den Deckenstuck dann endgültig zum Bröckeln. Bei manchen Tanz-Moves schwang die Sorge mit, ob all das was hineingehört, auch wirklich in der Gelenkspfanne bleibt, doch Iggys klassische Leguan-Bewegungen waren über alle Zweifel und Sorgen erhaben. Er verrichtete seinen Dienst mit beneidenswerter Akkuratesse - so wie auch die famose und durchgehend lautstarke Band, die Iggy mit Leidenschaft und Können unterstützte und ihrer Rolle gemäß keinen selbstständigen Ausflug ins Rampenlicht wagte.
Die ledernde Haut Iggys, mittlerweile als Meme auch zu einem Internet-Phänomen geworden, hat ihre Straffheit mittlerweile verloren und der Sprung ins Publikum ist mit 75 und dem bedrohlich schwebenden Damoklesschwert Corona auch nicht drin. Doch der wie von Taranteln gestochene Amerikaner, werkte auch ohne übertriebene Ausübung seiner sportlichen Aktivitäten nach Kräften. Sein geschundener Körper müsste irgendwann Aufnahme im Louvre oder im Museum Of Modern Art finden, denn sie ist mitunter verantwortlich für so gut wie jeden Winkel der härteren Musik, wie sie heute in all ihrer vielseitigen Pracht existiert. Mit dem Stooges-Kracher „I’m Sick Of You“ oder dem abschließenden „Search And Destroy“ gab er noch einmal alles, bevor sich Iggy nach 90 schweißtreibenden Minuten frenetisch bejubeln ließ. Nicht in pseudoreligiösem Missverständnis á la Nick Cave, sondern in all seiner angeborenen Bescheidenheit. Das Residenzorchester überlebte übrigens ebenso wie das Konzerthaus selbst. Den Mief des Punk kriegt man aber nie wieder aus diesen Hallen gewaschen. Gut so!
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