Überraschend haben die ukrainischen Streitkräfte auch im Osten des Landes eine Gegenoffensive gestartet - und sie erzielen offenbar Fortschritte. Bei den Kämpfen in der Region Charkiw wurden russische Truppen verschiedenen Berichten zufolge vom Vorstoß ukrainischer Kräfte überrumpelt. Zwar räumten die Russen ein, dass der Ort Balaklija eingekesselt sei, sagte der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch auf YouTube. Tatsächlich seien die ukrainischen Truppen aber viel weiter vorgedrungen und hätten die Straße nach Kupjansk blockiert.
Damit bezog er sich auf einen zentralen Versorgungsposten der russischen Truppen weiter im Osten des Landes. Juri Podoljak, ein von pro-russischen Vertretern oft zitierter Ukrainer, schrieb auf Telegram: „Der Feind hat mit relativ wenigen Kräften beträchtlichen Erfolg bei Balaklija“. Die ukrainische Armee eroberte mehrere Ortschaften um die Stadt zurück. Weiter schrieb Podoljak: „Es sieht so aus, als hätten die russischen Kräfte diesen Vorstoß verschlafen und ihn anderswo erwartet.“ Es habe schwere Verluste gegeben.
Angriff schon länger vorbereitet
Auch der ranghohe Separatist Danijl Bessonow aus dem russisch besetzten Teil der Region Donezk äußerte sich ungewöhnlich offen. Seinen Angaben zufolge scheint der Angriff auf Balaklija, der am Dienstag erfolgte, von den ukrainischen Streitkräften schon seit Längerem vorbereitet worden zu sein. Die 27.000-Einwohner-Stadt liegt zwischen der umkämpften Großstadt Charkiw und dem russisch besetzten Isjum. Dort befindet sich ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt für den russischen Nachschub.
Die Regierung in Kiew hält sich zu Einzelheiten weiter bedeckt, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte am Mittwochabend aber die Gegenoffensive seiner Streitkräfte im Osten des Landes. Es gebe in dieser Woche „gute Nachrichten aus der Region Charkiw“, sagte er in seiner Videoansprache. Die Ukrainer hätten Grund, Stolz auf ihre Armee zu sein. „Jetzt ist nicht die Zeit, diese oder jene Siedlung zu nennen, in die die ukrainische Flagge zurückkehrt“, sagte der Staatschef. Er zählte drei Brigaden der Armee auf, die sich besonders ausgezeichnet hätten. Ebenso dankte er zwei Brigaden, die an dem Angriff im Süden der Ukraine im Gebiet Cherson beteiligt seien. „Jeder Erfolg unseres Militärs in die eine oder andere Richtung verändert die Situation entlang der gesamten Front zugunsten der Ukraine“, sagte Selenskyj.
Signal an Westen: Militärhilfe wirkt
Der Zeitpunkt des Vorstoßes im Gebiet Charkiw dürfte kein Zufall sein: Am Donnerstag beraten im US-Luftwaffenstützpunkt im deutschen Ramstein Verteidigungsminister und ranghohe Militärs aus mehr als 50 Ländern über weitere Unterstützung für die Ukraine. Beobachtern zufolge will die Führung in Kiew den Geberländern beweisen, dass die westliche Militärhilfe Wirkung zeigt. In Ramstein wird auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erwartet, ein Vertreter des österreichischen Verteidigungsministeriums nimmt als Beobachter teil.
Die eigentliche Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte läuft deren Angaben zufolge aber im Süden des Landes. Unabhängig lassen sich die spärlichen Informationen dazu kaum überprüfen. Kiew lässt keine Journalisten an die Front und veröffentlicht nur eingeschränkte Lageberichte, um das Überraschungsmoment nicht aus der Hand zu geben. Man habe „bereits einige Gebiete befreit“, wurde eine Militärsprecherin in Medien zitiert. Die Ukraine versucht im Süden, Tausende russische Soldaten am Westufer des Dnjepr festzusetzen und deren Nachschublinien zu stören. Wie aus dem täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums am Donnerstag hervorgeht, zerstörten die ukrainischen Verteidiger eine Pontonbrücke entlang einer wichtigen Nachschubroute. „Die systematischen Präzisionsschläge gegen anfällige Flussübergänge dürften weiter Druck auf die russischen Kräfte ausüben“, hieß es dazu.
AKW-Betreiber: Mitarbeiter getötet und gefoltert
Indes wirft der ukrainische Atomkonzern Energoatom den russischen Truppen im besetzten AKW Saporischschja die Verschleppung und Misshandlung von Kraftwerksmitarbeitern vor. Der Präsident des Konzerns, Petro Kotin, sprach auch davon, dass Mitarbeiter getötet oder gefoltert worden seien. „Etwa 200 Leute sind bereits inhaftiert worden. Von einigen wissen wir nicht, was mit ihnen passiert ist. Es gibt keinen Hinweis, wo sie sind“, sagte Kotin, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Es ist sehr schwierig für unser Personal, da zu arbeiten“, so Kotin. Die verbliebenen AKW-Beschäftigten wüssten, dass es wichtig sei, für nukleare Sicherheit und Brandschutz zu sorgen. Nach Angaben Kotins halten noch etwa tausend ukrainische Mitarbeiter die Anlage in Betrieb. In Friedenszeiten arbeiteten auf der Anlage 11.000 Menschen.
Ohne so weit zu gehen wie Kotin in seinen Vorwürfen, hat auch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA von einer unhaltbaren Lage der ukrainischen AKW-Mitabeiter berichtet. Es gebe zu wenig Personal, hieß es nach einer Inspektionsreise. Die verbliebenen Experten seien so hohem Stress ausgesetzt, dass Bedienungsfehler passieren könnten. Sie hätten auch nicht Zugang zu allen Teilen der Anlage. Die Ukrainer arbeiten dem Bericht zufolge seit März unter der Kontrolle russischer Soldaten, auch seien Vertreter des Konzerns Rosatom anwesend.
Belarus hält Manöver ab
Unterdessen hat Belarus nach eigenen Angaben Militärübungen in drei Bereichen des Landes gestartet, darunter an der Grenze zu Polen. Das Verteidigungsministerium teilt mit, das Manöver finde im Südosten nahe der Grenzstadt Brest, im Großraum der Hauptstadt Minsk in der Landesmitte und bei Witebsk im Nordosten nahe Russland statt. Bis zum 14. September solle trainiert werden, von feindlichen Kräften eingenommenes Territorium zurückzuerobern und die Kontrolle über Grenzregionen zurückzugewinnen. Die Zahl der beteiligten Soldaten und der Umfang der eingesetzten Ausrüstung liege unter der Schwelle, bei der nach OSZE-Regeln das Manöver angemeldet werden müsste.
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