Bald live in Wien

Electric Callboy: Der deutsche Hype der Stunde

Wien
21.09.2022 06:01

Metalcore, Techno und Schlager vermischt mit wildem Bühnengebahren und politischer Korrektheit - der Stern das Sextetts Electric Callboy aus Nordrhein-Westfalen strahlt seit der Pandemie bis in die USA hinüber und wird den Erfolg der letzten Jahre mit dem neuen Album „Tekkno“ potenzieren. Wir sprachen am Rande des Nova Rocks mit den beiden Sängern Kevin Ratajczak und Nico Sallach über das Übertreten von Stilgrenzen, die Änderung des Bandnamens und entschlossene Geradlinigkeit.

Nova Rock, Samstag, 16.15 Uhr. Am dritten Festivaltag hat sich der Schlamm des Auftakts ziemlich aufgeweicht, die Sonne brennt unerbittlich auf die schattenlosen Felder der burgenländischen Pannonia Fields und die ersten Illuminierten werden am Rand der Hauptbühne bereits Opfer ihrer eigenen Übermotivation. Doch wo später am Tag noch Kaliber wie Seiler und Speer, Volbeat oder The Offspring für Stimmung sorgen werden, füllt sich das Areal schon besonders früh besonders gut für eine deutsche Combo namens Electric Callboy. Hartmusikliebhabern freilich ein Begriff, für die noch wenigen älteren Stammbesucher des Festivals ist das Sextett aber erst einmal ein Grund für dicke Fragezeichen auf dem Schädel. Perücken, überdimensionierte Sonnenbrillen, harte Metalcore-Beats, Techno-Stafetten, ja, sogar 80er-Synth-Pop mischt sich in das bunte Treiben, das wie für Festivals geboren scheint.

Den Nerv getroffen
„Größten Respekt vor den Österreichern, das war wirklich ein gewaltiger Abriss“ zeigt sich Nico Sallach kurz danach im Gespräch mit der „Krone“ begeistert - doch an Superlativen mangelt es der Band seit ihrem Start ohnehin nicht. Wo die meisten Künstler nach Ausbruch der Corona-Pandemie um ihre Zukunft und Existenz bangen mussten, starteten die ironischen Callboys erst so richtig durch. Dabei verlor man Sänger „Sushi“ Biesler erst im Februar 2020, doch Nachfolger Sallach brachte nicht nur mehr Stimmfarben und Variabilität mit, sondern traf mit Sangeskollege Kevin Ratajczak im Juni 2020 auch den richtigen Nerv. Die Single „Hypa Hypa“, eine frei interpretierte, liebevolle Reverenz an die Hamburger Techno-Legenden Scooter, bog mit ihren Techno-Metalcore zwar die Zehennägel der Szene-Elitisten nach oben, war aber der musikalisch und inhaltlich perfekte Befreiungsschlag in einer Zeit der Unsicherheiten, Ängste und Sorgen. Die Krise als Chance gesehen - und eiskalt genutzt.

„Die Pandemie war für uns wie ein Dosenöffner“, lacht Ratajczak, „das soll jetzt kein Euphemismus sein, aber Covid hat uns gepusht. Die Volkskrankheit Depression nahm zu, alle waren am Boden und voll negativer Vibes.“ Sallach ergänzt: „Viele Bands haben die dystopische Stimmung mitgenommen, was auch verständlich ist, aber wir wollten das nicht. Wir wollten genau das Gegenteil davon kreieren.“ Danach gab es kein Halten mehr. Electric Callboy wurden zum Internet-Hype, bewarben sich (schlussendlich erfolglos) in der deutschen Vorentscheidung zum Song-Contest und wurden in den USA so berühmt, dass man dort ab Mitte Oktober für gut einen Monat als Headliner auf Tour ist und viele Clubs schon jetzt ausverkauft hat. In Wien gibt’s ein Wiedersehen kommenden April im Gasometer - die Tickets werden auch dort langsam knapp. Das Erfolgsrezept des Loslassens und Feierns optimiert die Band nun auf dem mittlerweile sechsten Album „Tekkno“, das nicht nur durch Sallachs Integration ein neues Kapitel ist. Electric Callboy hießen nämlich noch bis Ende 2021 Eskimo Callboy, benannten sich nach langen und harten Diskussionen aber schlussendlich um.

Notwendige Bildungsreise
„In Europa romantisiert jeder die Inuits und denkt an pelzkragentragende Menschen vor dem Iglu. Wenn du aber über den großen Teich fliegst, dann ändert sich das radikal“, geht Ratajczak in die Tiefe, „wir haben reflektiert, uns ausreichend informiert und unsere Entscheidung mittels YouTube-Videos hinlänglich begründet. Es war auch für uns eine Bildungsreise, bei der wir sehr viele Erkenntnisse gewonnen haben. Wirtschaftlich gesehen war die Umbenennung nach fünf Alben und einem gewissen Standing in der Szene riskant, aber das Ideelle war uns wichtiger.“ Ob die Umbenennung ein Kniefall vor der grassierenden politischen Korrektheit und der „Woke“-Generation war oder nicht, darüber will Sallach gar nicht nachdenken. „Wo fängt Freiheit an und wo hört sie auf? Mit dem alten Bandnamen haben wir uns eine Freiheit herausgenommen, die andere diskriminiert und beleidigt. Vor drei Jahren haben wir selber noch gedacht, man solle sich deshalb mehr entspannen, aber wir haben das Thema außerhalb unseres Mikrokosmos gesehen und verstanden. Ausdiskutiert wird die Sache ohnehin nie so ganz sein.“

Electric Callboy stehen damit in guter Tradition jener Acts, die auf der Bühne und in Texten gerne mit Plattitüden und flachen Witzen daherkommen, sich drumherum aber stark um Botschaft und Außenwirkung sorgen und ihr Projekt sehr ernst nehmen. So hat das Kollektiv auch diverse ältere Songs mit zweifelhaftem Humor von den Streamingplattformen genommen. Dass die korrekte Vorgehensweise aber nicht komplett logisch durchdekliniert ist, das beweist zum Beispiel der Song „Spaceman“ auf dem neuen Album „Tekkno“ - dort hat man den Ostberliner Asi-Rapper und Bandkumpel Finch zu Gast, der mit korrektem Humor in etwa so viel gemein hat wie die aktuelle Rapid-Mannschaft mit Europa-Niveau. Ansonsten ballert „Tekkno“ eine kurze halbe Stunde lang durchs Unterholz und macht noch nicht einmal vor Schlager Halt („Hurrikan“). Die Hälfte der Songs kennt man schon, was dem sehr kurzen Treiben einen leicht bitteren Beigeschmack verschafft.

Echt und direkt
„Das Album ist auf vielen Ebenen überraschend“, so Sallach, „es gibt Dinge, die man von uns kennt und erwartet, aber auch so manch ernstes und tiefgründiges Thema zu entdecken. Pop-punkige Songs, eine Rockballade und Schlager mit offenem Ende. Es ist für jeden was dabei.“ Den bereits erwähnten Scooter sind Electric Callboy vor allem durch ihre Kompromisslosigkeit näher, als sie womöglich selbst glauben. Entgegen aller Unkenrufer und Szene-Polizisten hält man beharrlich am bunten Treiben fest. „Wir sind aus dem Ruhrpott, da ist man sowieso sehr offen und direkt“, lacht Ratajczyk, „viele Bands, die über uns zu stellen waren, haben uns lange verächtlich angesehen, aber jetzt sind wir viele Stufen hochgekraxelt und die Leute sind alle ganz lieb zu uns. In erster Linie sind wir eine dynamische und harmonische Truppe und genießen gerade den Augenblick.“

Live in Wien
Am 14. April 2023 kommen Electric Callboy ins Wiener Gasometer. Unter www.oeticket.com gibt es noch alle Infos und ein paar Karten für die Party des Jahres. Wer noch nichts hat und unbedingt dabei sein will, der sollte wohl schnell sein…

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