Mobilmachung eskaliert

Russland: Reservist schoss Einberufungsleiter an

Ausland
26.09.2022 11:10

Im Zuge der von vielen Russen abgelehnten Teilmobilmachung für den Krieg in der Ukraine hat ein Reservist auf den Leiter einer Einberufungsstelle geschossen und den Mann schwer verletzt. Der Vorfall ereignete sich in der ostsibirischen Stadt Ust-Ilimsk im Gebiet Irkutsk, wie der Gouverneur der Region, Igor Kobsew, am Montag im Nachrichtenkanal Telegram mitteilte. Der 25 Jahre alte Reservist, der zum Kriegsdienst in der Ukraine eingezogen werden sollte, wurde festgenommen.

Der Zustand des „Militärkommissars“ sei kritisch, sagte Kobsew. „Die Ärzte kämpfen um sein Leben.“ Seit der am vergangenen Mittwoch von Kremlchef Wladimir Putin angeordneten Teilmobilmachung kommt es landesweit zu zahlreichen Protesten, Festnahmen und Zwischenfällen. Vereinzelt melden die Behörden auch Brandanschläge auf die Kreiswehrersatzämter, wo Reservisten einberufen werden.

Proteste in Teilrepubliken gegen Einberufungen
In der russischen Teilrepublik Dagestan eskalierte am Wochenende in mehreren Orten der Widerstand gegen die Einberufungen. Frauen gingen mit Fäusten auf Polizisten los, weil sie damit verhindern wollten, dass ihre Männer, Söhne oder Brüder im Krieg in der Ukraine sterben. Viele riefen, dass sie nichts gegen Ukrainer hätten und deshalb nicht schießen würden auf sie. Ein Polizist feuerte mit einer Maschinenpistole in die Luft, um die wütende Menschenmenge zur Ruhe zu bringen. Zeitweise wurde auch eine Fernverkehrsstraße mit Sitzblockaden der Dagestaner gesperrt.

300.000 Reservisten wurden im September/Oktober für den Krieg in der Ukraine eingezogen. (Bild: AP)
300.000 Reservisten wurden im September/Oktober für den Krieg in der Ukraine eingezogen.

Um der Einberufung zu umgehen, verlassen weiter Zehntausende Männer fluchtartig das Land mit Flügen oder mit dem Auto etwa über die Grenzen zu den Ex-Sowjetrepubliken Kasachstan (Zentralasien) oder Georgien (Südkaukasus). Viele Familien in Russland sind in heller Panik, ihre Angehörigen in dem Krieg zu verlieren.

Staus an den Grenzen
Auch der Grenzverkehr Richtung Finnland steigt weiter an. Fast 17.000 Russen überquerten nach Angaben der finnischen Behörden am Wochenende die Grenze. Das sei ein Anstieg um 80 Prozent im Vergleich zum Wochenende davor, sagte Taneli Repo, Hauptmann der finnischen Grenzbehörde im Südosten des Landes. Die finnische Regierung hatte am Freitag erklärt, russischen Staatsbürgern bald die Einreise über Touristenvisa zu verweigern.

Lange Staus an der russisch-georgischen Grenze, zahlreiche Männer wollen das Land verlassen, um dem Kriegsdienst zu entgehen. (Bild: AFP)
Lange Staus an der russisch-georgischen Grenze, zahlreiche Männer wollen das Land verlassen, um dem Kriegsdienst zu entgehen.

Moskauer Patriarch: „Gefallenen werden Sünden erlassen“
Russlands orthodoxe Kirche verspricht unterdessen Soldaten die Vergebung all ihrer Sünden, wenn sie im Krieg ihr Leben opfern. Patriarch Kyrill I. verglich in einem Gottesdienst am Sonntag laut Kathpress das Sterben „bei der Erfüllung der militärischen Pflichten“ damit, dass Gott seinen eigenen Sohn Jesus geopfert habe. Kyrill betonte zugleich, die Kirche wisse, dass diejenigen, die bei der Erfüllung ihrer militärischen Pflichten sterben, sich für andere aufopfern. „Und deshalb glauben wir, dass dieses Opfer alle Sünden abwäscht, die ein Mensch begangen hat“, so der Patriarch.

Der Moskauer Patriarch Kyrill und Kreml-Chef Putin sind „ein Herz und eine Seele“. (Bild: AP/Russian Orthodox Church Press Service/Oleg Varov)
Der Moskauer Patriarch Kyrill und Kreml-Chef Putin sind „ein Herz und eine Seele“.

Der russische Präsident Putin hatte vor dem Hintergrund des sich hinziehenden Angriffskriegs gegen die Ukraine und nach zahlreichen Niederlagen der eigenen Armee dort die Teilmobilmachung angeordnet. 300.000 Reservisten sollen nun in die russische Armee eingezogen werden. Zugleich hatte Putin die Gesetze gegen Kriegsdienstverweigerer verschärft. Die Verantwortung für die Organisation der Einberufung liegt bei den regionalen Gouverneuren und den einzelnen Kreiswehrersatzämtern vor Ort.

London: „Rekruten nur mangelhaft ausgebildet“
Viele durch die jüngste Teilmobilmachung rekrutierte russische Kämpfer ziehen nach Einschätzung britischer Geheimdienste ohne fundierte Ausbildung oder Erfahrung in den Krieg in der Ukraine. Moskau stehe nun vor der enormen Herausforderung, die Truppen zu schulen, hieß es am Montag in einem Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums.

In der russischen Armee sei es im Gegensatz zu vielen westlichen Armeen üblich, eine Erstausbildung innerhalb operativer Einheiten zu durchlaufen statt in speziellen Ausbildungseinrichtungen. Viele dieser sogenannten dritten Bataillone seien jedoch aktuell in die Ukraine entsandt. Der Mangel an Ausbildern und der überstürzte Ablauf der Teilmobilmachung deute darauf hin, dass viele Soldaten ohne ausreichende Vorbereitung an die Front geschickt würden. Dies mache hohe Verluste wahrscheinlich.

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