Ex-Kanzler Kurz:

„Putin bereit, jede rote Linie zu überschreiten“

Politik
15.10.2022 05:00

Mehr als zehn Jahre hatte Sebastian Kurz in der Spitzenpolitik verbracht, bevor er sich vor einem Jahr zurückzog. Nun kehrt der ehemalige Bundeskanzler in die Öffentlichkeit zurück, sein neues Buch „Reden wir über Politik“ arbeitet seine Zeit an der Spitze der Republik auf. krone.at traf ihn in Wien zum Gespräch und fragte nach, was Kurz über den Ukraine-Krieg denkt, wie sein neues Leben in der Privatwirtschaft aussieht - und ob er auch hin und wieder die Windeln wechselt …

Die Gäste, die im Erdgeschoß des Wiener Lokals Stadtwirt im dritten Wiener Gemeindebezirk gemütlich ihr Schnitzel essen und Kaffee trinken, ahnen wohl nicht, wer sich an jenem nebeligen Herbstnachmittag im ersten Stock des Lokals aufhält.

Klassisch im dunkelblauen Anzug, jedoch ohne Krawatte, würde Kurz nach wie vor als Spitzenpolitiker durchgehen. Doch eine Veränderung ist merkbar, und so plaudert der einstige Kanzler und ÖVP-Chef nicht nur über Berufliches, sondern gewährt auch ungewohnt offen Einblicke in sein Privatleben …

krone.at: Herr Kurz, Sie haben ja in letzter Zeit in einige Start-ups und Firmen investiert, Ihre jüngste Zusammenarbeit wird etwas kritisch gesehen, Ihr neuer Geschäftspartner hat ja bisher unter anderem Spionagesoftware entwickelt. Was sagen Sie dazu und wie sieht Ihr Tätigkeitsfeld aktuell aus?
Sebastian Kurz: Ende letzten Jahres habe ich die Politik verlassen und begonnen, unternehmerisch und privatwirtschaftlich tätig zu sein, arbeite unter anderem für Peter Thiel bei Thiel Capital in den USA. Darüber hinaus habe ich ein Beratungsunternehmen gegründet und gemeinsam mit Alexander Schütz in einige Unternehmen, auch in Österreich, zu investieren angefangen. Zuletzt habe ich mit Partnern in Israel ein Unternehmen gegründet und bereits 20 Millionen Dollar an Investorengeldern lukriert. Die Firma hat sich auf den Schutz von kritischer Infrastruktur vor Cyberattacken spezialisiert, ein Thema, das immer wichtiger wird.

Wie sieht ein typischer Tag im Leben des Sebastian Kurz aus?
Ich bin recht gefordert mit all diesen Tätigkeiten - schmunzelt - versuche aber natürlich, wann immer es möglich ist, Zeit mit unserem kleinen Sohn zu verbringen, das genieße ich sehr. Ungefähr drei von vier Wochen im Monat bin ich unterwegs, im Mittleren Osten, den USA, aber auch in Europa und Asien. Eine Woche pro Monat verbringe ich in Österreich, aber ich versuche, so oft es geht, dass wir gemeinsam reisen, also dass meine Lebensgefährtin und der Kleine mit dabei sind, damit wir auch ein bisschen Familienzeit haben.

Sebastian Kurz sprach im Interview mit krone.at über die Zeit nach seiner Polit-Karriere und darüber, was von ihm als Politiker bleibt. (Bild: krone.tv)
Sebastian Kurz sprach im Interview mit krone.at über die Zeit nach seiner Polit-Karriere und darüber, was von ihm als Politiker bleibt.

Das heißt, Sie beteiligen sich aktiv an der Kinderbetreuung? Wechselt Sebastian Kurz die Windeln?
Ja, natürlich. Aber zugegebenerweise - meine Freundin ist gerade in Karenz und trägt daher auch die Hauptverantwortung. Aber so oft wie möglich bringe ich mich ein, wechsle natürlich die Windeln und spiele mit dem Kleinen. Kurzum: Ich genieße es sehr, mit unserem kleinen Konstantin Zeit zu verbringen. 

Und wie sieht es aus mit der weiteren Familienplanung? Läuten vielleicht bald die Hochzeitsglocken?
Da bin ich jemand, der das lieber daheim bespricht als in den Medien. Dafür bitte ich um Verständnis. 
Wobei Letzteres schon irgendwann ein Thema sein wird. Aber auch das behandle ich eher daheim - lächelt.

Ihr neues Buch heißt „Reden wir über Politik“ - also reden wir doch über die Politik. Fehlt sie Ihnen?
Ich habe es immer sehr genossen, politisch tätig zu sein, dem Land zu dienen und meinen Beitrag in der Bundesregierung zu leisten. Was mir am meisten abgeht, ist der Kontakt mit den Menschen, man ist viel unterwegs, trifft unterschiedliche Leute und kann nicht nur zuhören, wenn Menschen ihre Sorgen und Nöte berichten, sondern auch einen Beitrag leisten, um die Dinge ein Stück weit in die richtige Richtung zu bewegen. Das hat mir viel Freude gemacht. Auch das Arbeiten mit meinem Team, das war immer wunderschön. 

Aber? 
Nun, auf der anderen Seite gibt es Dinge wie Auseinandersetzungen, den tages- und innenpolitischen Kampf und oft Streit - da muss ich ehrlicherweise sagen, das geht mir nicht ab. Ich habe die zehn Jahre in der Regierung mit sehr viel Leidenschaft betrieben, genauso viel Freude habe ich aber jetzt mit meinen neuen Aufgaben. In anderen Ländern wirtschaftlich tätig zu sein, das erweitert auch meinen persönlichen Horizont.

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Was die österreichische Innenpolitik betrifft, habe ich doch fast mein ganzes Berufsleben dort verbracht, und es bereitet mir auch Freude, jetzt etwas anderes zu machen. Das ist auch das, worin ich meine Zukunft sehe.

Sebastian Kurz über ein mögliches politisches Comeback

Ich gehe jetzt trotzdem davon aus, dass Sie die österreichische Innenpolitik etwas beobachten. Wie sehen Sie die immer wieder aufkeimenden Personaldebatten in der ÖVP? So gab es Gerüchte um eine Ablöse von Karl Nehammer, Finanzminister Magnus Brunner oder auch Karoline Edtstadler waren da im Gespräch, was sagen Sie dazu? Haben Sie ein Machtvakuum hinterlassen?
Nein, das glaub ich nicht, dass ich da ein Machtvakuum hinterlassen habe. Aber Sie wären überrascht, wie wenig ich die österreichische Innenpolitik mitverfolge. Ich beschäftige mich eher mit Geopolitik und mit der Frage, wo geht unsere Welt hin. Karl Nehammer war mein Innenminister, ist mir als Bundeskanzler und Parteichef nachgefolgt, er führt die Volkspartei sehr umsichtig - alles andere würde ich da nicht überbewerten. 

Sie waren einer der jüngsten Spitzenpolitiker in Europa, Ihr Aufstieg hat bei vielen jungen Menschen die Hoffnung auf einen Wandel geweckt. Haben Sie diesen Wandel gebracht, was bleibt von Ihnen in dieser Hinsicht?
Was das Altersthema angeht, glaube ich schon, dass sich da etwas verändert hat. Es ist heutzutage für junge Menschen wesentlich leichter, in Führungspositionen vorzurücken, als noch vor 20 oder 30 Jahren. Wir haben auch in anderen europäischen Ländern wie Dänemark und Finnland mehr und mehr jüngere Politiker, ich halte das für gut, weil dieser Mix aus Jüngeren und Älteren, Frauen und Männern usw. in der Politik einfach wichtig ist. Die Vielfalt, die unsere Bevölkerung ausmacht, sollte sich auch in der Politik widerspiegeln. 

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Ich habe auch immer wieder darüber nachgedacht, ob es Fehlentscheidungen gab oder Abzweigungen, an denen wir falsch abgebogen sind. Das lässt sich im Rückblick schwer sagen.

Sebastian Kurz über die Turbulenzen seiner Polit-Karriere

Schließen Sie tatsächlich ein lebenslanges Comeback in der Politik aus? Sagen Sie wirklich: „Ich komme nie wieder zurück“?
Ich habe klare Meinungen zu politischen Fragen, das hat sich auch nicht geändert. Ich interessiere mich auch weiterhin dafür, wie sich unsere Welt entwickelt. Aber was die österreichische Innenpolitik betrifft, habe ich doch fast mein ganzes Berufsleben dort verbracht, und es bereitet mir auch Freude, jetzt etwas anderes zu machen. Das ist auch das, worin ich meine Zukunft sehe.

Viele Österreicher beschäftigt derzeit der Klimabonus, haben Sie Ihren schon bekommen?
Ja, ich habe den schon erhalten.

Und was werden Sie damit machen?
Bei uns hat meine Freundin das Budget daheim über, insofern wird diese Entscheidung nicht von mir getroffen - schmunzelt.

Ihr Rückzug kam auch im Zuge der Chat-Affäre, haben Sie noch Kontakt zu Ihren ehemaligen Mitarbeitern, die da involviert waren?
Zu meinem Team, mit dem ich in meinem Büro sehr eng zusammengearbeitet habe, habe ich nach wie vor einen guten Kontakt. Wir haben viel gemeinsam erlebt und erreicht - zwei Wahlsiege, viele Reformen - auch den einen oder anderen Rückschlag.

Gibt es etwas, das Sie vielleicht bereuen oder heute anders machen würden?
Ja, natürlich. Ich habe auch immer wieder darüber nachgedacht, ob es Fehlentscheidungen gab oder Abzweigungen, an denen wir falsch abgebogen sind. Das lässt sich im Rückblick schwer sagen. Aber ich habe mir schon die Frage gestellt, ob es nach der Ibiza-Enthüllung richtig war, in Neuwahlen zu gehen, anstatt zu versuchen, die Koalition fortzusetzen. Es gibt einige Themenfelder, bei denen man mit einem anderen Wissensstand aus heutiger Sicht vielleicht anders agieren würde.

Der Alt-Bundeskanzler mit „Krone“-Journalistin und Bestseller-Autorin Conny Bischofberger (Bild: edition a Verlag, Krone KREATIV)
Der Alt-Bundeskanzler mit „Krone“-Journalistin und Bestseller-Autorin Conny Bischofberger

Für gewöhnlich saßen oder standen die Journalisten bei Ihnen ja auf der anderen Seite des Tisches. Jetzt haben Sie sich für die Zusammenarbeit mit ihrem Buch ausgerechnet eine Journalistin, nämlich meine „Krone“-Kollegin Conny Bischofberger, ausgesucht. Wie war das Arbeiten mit ihr, man sagt ihr ja nach, dass sie sehr detailverliebt ist?
Conny Bischofberger habe ich immer schon als eine der renommiertesten österreichischen Journalistinnen gekannt und geschätzt, aber in der Zusammenarbeit habe ich sie noch mehr schätzen gelernt. Es war mit mir sicher nicht leicht, ich war viel unterwegs, und zeitlich war es oft schwierig. Sie war immer sehr geduldig und großzügig. Und was Sie angesprochen haben, das stimmt. Ich bin zwar ein Perfektionist, aber ich habe bei Weitem nicht diese Gabe, die sie hat, mich an Details, an Stimmungen und Eindrücke zu erinnern. Sie hat da ein spezielles Auge und einen speziellen Sinn, das finde ich ganz interessant, und ich habe die Zusammenarbeit mit ihr sehr genossen.

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Ich habe Wladimir Putin oft getroffen und glaube, dass er jemand ist, der bereit ist, jegliche rote Linie zu überschreiten.

Kurz über Putin und den Angriffskrieg in der Ukraine

Wenn wir mal ein bisschen in die Zukunft blicken, was wird denn im Schul-Geschichtsbuch Ihres Sohnes über Sebastian Kurz stehen? Oder was sollte dort stehen?
Na ja, ich weiß nicht, wie oft diese Geschichtebücher überarbeitet werden, und die Innenpolitik der letzten Jahre wird hoffentlich nicht im Zentrum des Geschichtsunterrichts stehen. Aber ich habe versucht, meine Sicht der Dinge in meinem Buch zusammenzufassen, es war sicher eine arbeitsreiche und intensive Zeit, aber auch eine Phase der Begeisterung, in der wir es geschafft haben, in einem Land, in dem klassischerweise die Sozialdemokratie die Wahlen gewinnt, zweimal eine Wahl für uns zu entscheiden und das Land in eine andere Richtung zu entwickeln.

Die aktuelle Lage in der Ukraine beschäftigt die ganze Welt, Sie hatten in Ihrer Zeit als Staatssekretär, Außenminister, aber auch als Kanzler gute Kontakte nach Russland. Wie würden Sie nun vorgehen?
Es gibt von mir sicher keine Zurufe, was die österreichische Politik betrifft. Was die Situation in Europa angeht, muss ich sagen, das macht mir schon Sorgen. Ich habe Wladimir Putin oft getroffen und glaube mittlerweile, dass er jemand ist, der bereit ist, jegliche rote Linie zu überschreiten, eine Niederlage ist keine Option für ihn. Wir müssen uns bewusst sein, dass man nicht ausschließen kann, dass er daher auch bereit sein könnte, die letzte rote Linie zu überschreiten und Atomwaffen einzusetzen. Ich hoffe sehr, dass alle, die hier in Europa Verantwortung tragen, versuchen, dass es zu einer Deeskalation kommt. 

Würden Sie aktiv den Kontakt zu Wladimir Putin suchen?
Ich bin kein Tippgeber. Ich weiß, dass es einige gibt, die in Kontakt sind. Es sind auch Staaten außerhalb von Europa, die versuchen, sich hier einzubringen und Brücken zu bauen, wie bei dem potenziellen Dialogprozess, der in Istanbul entstanden ist. Wie man es dreht und wendet, das Ziel muss sein, dass die totale Eskalation verhindert wird. 

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