Während Dankesrede

Deutscher Buchpreis: Gewinner rasiert sich Haare

Ausland
17.10.2022 22:53

Der Deutsche Buchpreis 2022 geht an den Schweizer Autor Kim de l‘Horizon für seinen Roman „Blutbuch“. Der sich als nicht-binär identifizierende Künstler machte mit seinem schillernden Cross-Dressing-Disco-Outfit und seiner ebenso performativen wie politischen Dankesrede die Verleihungszeremonie im Frankfurter Römer zum Ereignis mit Erinnerungswert. Eine wichtige Rolle dabei spielte auch ein Rasierapparat.

Kim de l‘Horizon bedankte sich unter Tränen bei seiner Familie und seiner Großmutter, die offenbar mit der Hauptfigur seines Romans ident ist. Nach einem selbst vorgetragenen Song interpretierte er die Entscheidung der Jury auch als ein Signal gegen den Hass und für die Liebe, als ein Zeichen der Unterstützung für alle, die gegen herkömmliche Geschlechtergrenzen kämpfen, aber auch für die Frauen im Iran, „zu denen wir alle schauen“ und sie für ihren Mut und ihre Kraft bewundern. Dafür gab es lange Standing Ovations des Saalpublikums, das nochmals verblüfft wurde, als der Preisträger einen batteriebetriebenen Rasierapparat zückte und sich seine langen Haare aus Zeichen der Solidarität abrasierte.

Es ist ein überraschender Sieg: ein Buch, an dem nichts Mainstream ist. Das 300 Seiten starke Werk ist ein wilder Ritt durch Themen und Stile. Gedanklicher Ausgangspunkt ist eine Blutbuche. Sie steht im Garten der Großmutter, die im Laufe der Erzählung dement wird. Ein Teil des Buches besteht aus akribisch recherchiertem Material über diesen Baum, ein anderer Teil aus erfundenen Biografien aller weiblichen Vorfahren der Großmutter bis zurück ins Mittelalter.

Großmutter und Identitätsfindung
Der Roman ist aber auch ein sensibel beobachtetes Familiendrama: die Schweizer „Großmeer“ ist ein ewig monologisierender Drache. Die unglückliche Mutter verwandelt sich in Belastungsphasen in eine „Eishexe“, die das Kind mit ihrer Kälte zu Tode ängstigt. Der Vater spielt keine Rolle - oder maximal als abschreckendes Beispiel, ein Mann, der „Hmrgrmpf“ sagt, nur eben „nicht mit Buchstaben gesagt. Sondern mit Gliedmaßen.“

Darin verwoben ist die Geschichte der Identitätsfindung der Erzählfigur. Aus dem „flüssigen“ Kind wird zuerst ein schwuler Jugendlicher und dann eine Person, die so wenig definiert ist, dass die Sprache dafür erst erfunden werden muss: „Dieses Schauermärchen von bloß zwei Geschlechtern, (...) die genau das Gegenteil von einander seien, das erzähle ich nicht weiter.“

Mutige Frauen sind die tragende Säule der Proteste gegen die Regierung und die Mullahs im Iran. (Bild: www.VIENNAREPORT.at)
Mutige Frauen sind die tragende Säule der Proteste gegen die Regierung und die Mullahs im Iran.

So begründet Jury ihre Entscheidung
In der Begründung der Jury heißt es: „Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l‘Horizons Roman ,Blutbuch‘ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Großmutter, die ,Großmeer‘ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt. Die Romanform ist dabei in steter Bewegung. Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ.“

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