In seiner Reihe „Hier war ich glücklich“ begleitet Robert Schneider Vorarlberger an die Lieblingsplätze ihrer Kindheit. In Höchst hat er jüngst seinen alten Lehrer Ivo Brunner getroffen.
Ein Kirchturm hat von je her die Neugierde eines Buben auf sich gezogen. So war es zumindest in meiner Jugendzeit. Die enge, steile Holztreppe hinaufzugehen bis zum Glockenstuhl, plötzlich die mächtigen Glocken direkt vor Augen zu haben, dem Klang zu lauschen, indem man mit den Fingerknöcheln vorsichtig dagegen schlug, das war aufregend, weil es ja verboten war. Auch wenn die Mutter sagte, vom Geläut so nahe bei den Glocken werde man auf der Stelle taub, die Bohlenbretter über dem Langhaus seien morsch, man könne jederzeit durch das papierdünne Deckengewölbe in den Tod stürzen, waren wir doch alle oben. Manchmal auch mit der gerade aktuellen Freundin, wenn sie denn verschwiegen war. Da konnte man schon Eindruck schinden.
„Es war so merkwürdig, in der Julihitze die Krippenfiguren mit den Kulissen zu betrachten, die man doch nur an Weihnachten sehen konnte“, erzählt Ivo Brunner aus Höchst, mein heutiger Gast. Auch er hat als Junge den Kirchturm erforscht, die Räume und Kammern, wo nur Pfarrer und Messner Zutritt hatten. Wir stehen vor der Höchster Pfarrkirche und warten auf den Fotografen.
Der Blick geht über den Friedhof, wo in der blauen Herbstluft ein Grabstein nach dem andern wie mit dem Lineal gezogen der Ewigkeit entgegenschläft. Noch nie habe ich einen so akkurat angelegten Friedhof gesehen. Auch im Jenseits bleibt man in Höchst „gköhrig“. Auf dem Kriegerdenkmal steht der Satz: Den Alten zur Ehr’, den Jungen zur Lehr’. Wir haben wirklich nichts aus der Geschichte gelernt, denke ich.
Hubert, der Messner, schließt die Tür zum Glockenturm auf. Wir müssen unsere Personalien in ein aufgelegtes Heft eintragen. Das sei halt so, sagt er. „Aus Haftungsgründen.“ Der Datenirrsinn macht nicht einmal vor dem ehrwürdigen Kirchturm Halt, dem höchsten des Landes überhaupt. Unsereins hat sein Monogramm noch in die Kirchenbank geritzt. Ivo Brunner bleibt vor dem alten Uhrengehäuse stehen. „Als Ministrant habe ich die Uhr jeden Tag aufgezogen. Heute ist es eine Funkuhr“, sagt er fast wehmütig. Der Anglist, Lehrerbildner, Hochschulprofessor und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Vorarlbergs, hat so seine Bedenken mit der digitalen Welt. „Digitale Kompetenz ist wichtig, kein Thema. Das Problem ist aber, gerade junge Menschen aus dieser digitalen Welt wieder herauszuholen, zurück in die analoge Welt“, resümiert er, dessen Verdienst es ist, die Pflichtschullehrerausbildung akademisiert und internationalisiert zu haben.
Gemeinsam gehen wir die Treppen hoch. Der 71-Jährige steigt munter aufwärts und gerät nicht ein Mal außer Atem. Übrigens ist Finanzminister Magnus Brunner, der gerade mit alemannischer Schmucklosigkeit versucht, Österreich über die Inflation hinwegzutrösten, sein Neffe.
Digitale Kompetenz ist wichtig, kein Thema. Das Problem ist aber, gerade junge Menschen aus dieser digitalen Welt wieder herauszuholen, zurück in die analoge Welt.
Ivo Brunner
Oben angekommen treten wir auf die Eckbalustrade hinaus und genießen das traumhafte Panorama des Dreiländerecks. Messner Hubert wacht über uns. In der Turmstube ist es so sauber, dass man vom Boden essen könnte. Wie Hubert überhaupt alles penibel in Ordnung hält. Für die große Klöppelratsche hat er einen Überzug genäht, damit sie nicht bis zum nächsten Karfreitag verstaubt. Eine flügellahme Wespe läuft über einen klappbaren Tisch, und ausgerechnet diese Wespe sticht einige Sekunden später meinen Gast in den Nacken.
Robert Schneider: Immer erwischt es die Lehrer!
Ivo Brunner: Sehr zur Freude der Schüler. Wie ich feststelle, hast Du dich nicht gebessert.
Schneider: Du warst mein Englisch-Lehrer. Wie hat sich das Bildungssystem, das Du ja entscheidend mitgestaltet hast, seitdem verändert?
Brunner: Der klassische Bildungskanon hat sich enorm geändert. Z.B. gibt es in den Sprachfächern keine Leselisten mehr für Maturanten. Das bedauere ich natürlich, weil ich in einer klassischen Buchhändlerfamilie aufgewachsen bin. Aber das ist nicht die Herausforderung. Inklusion und Diversität, zwei Worte, die es vor zehn Jahren nicht gegeben hat, sind zum tatsächlichen Prüfstein für die gesamte Lehrerschaft geworden. Das lernschwache wie das migrantische Kind - alle müssen jetzt integriert werden. Es gibt ja keine Sonderschule mehr. Eine Entwicklung, die prinzipiell richtig ist, und die ich auch befördert habe. Bis das greift, werden aber noch Jahre vergehen.
Schneider: Man putzt sich immer gern an Lehrern ab.
Brunner: Leider, denn eine Konstante ist immer gleich geblieben in all den Jahren - das enorme Engagement der Lehrerschaft. Und hier setzt meine Kritik an. In fast allen europäischen Ländern sind den Pädagogen Assistenzen beigestellt. In Österreich nicht. Es gibt kaum einen Schulpsychologen vor Ort. Es geht auch nicht an, dass ein Lehrer, der für Bildungsinhalte zuständig ist, die gesamte Schulaufsicht zu übernehmen hat, vom Pausenhof bis zum Mittagessen. Ein Problem ist auch, dass Pädagogen mit administrativen Aufgaben geradezu überschwemmt werden. Da kommen vom Ministerium via Bildungsdirektion Seiten über Seiten an Richtlinien oder Verordnungen, die natürlich per Knopfdruck direkt im Posteingang der Lehrer landen. Wer das alles gewissenhaft abarbeiten will, kommt schnell an seine Grenzen. Und genau diese Zeit fehlt dann. Ich weiß es aus so vielen Gesprächen.
Schneider: Sind Lehrer zu bloßen Verwaltern geworden?
Brunner: Das nicht. Aber die Vermittlung von Kulturtechniken wird oft durch bürokratische Vorgänge absorbiert.
Schneider: Du bist jemand, der Kultur immer als lebensnotwendig erachtet hat. Brauchen wir sie überhaupt noch?
Brunner: Ich glaube, dass der Mensch durch Kultur zu einem besseren Menschen werden kann. Das unterscheidet ihn ja von allen anderen Lebewesen.
Schneider: Wann bist Du glücklich?
Brunner: Wenn ich eine Beethoven-Sonate am Klavier spiele, obwohl ich ein sehr mittelmäßiger Klavierspieler bin. Das trägt mich dann in eine andere Welt.
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