Russe im Exil erzählt

Flucht vor Heer: „Will kein Kriegsverbrecher sein“

Ukraine-Krieg
25.10.2022 20:43

Seit der Kreml die Teilmobilmachung ausgerufen hat, um mehr Soldaten in den Krieg in der Ukraine schicken zu können, sind Hunderttausende Männer aus Russland geflohen. krone.at hat mit zwei Russen gesprochen, die ihre Heimat Moskau verlassen haben und es nach Usbekistan und Armenien geschafft haben. Offiziell wurde in der russischen Hauptstadt die Mobilmachung beendet, der Ankündigung schenken die beiden aber keinen Glauben. Die überzeugten Putin-Kritiker wollen abwarten, bis der Krieg vorbei ist. Sie hoffen auf einen ukrainischen Sieg.

„Niemand weiß, wer eingezogen wird“, sagt Pavel (seinen Nachnamen will er nicht veröffentlicht sehen). Eigentlich sollten laut dem Putin-Erlass nur Reservisten mobilisiert werden, aber es traf auch viele ohne jegliche Kampferfahrung. „Freunde von mir bekamen den Bescheid, dass sie zur Armee müssen, obwohl sie noch nie eine Waffe gehalten haben“, erzählt der 34-Jährige. Jeder könne an die Front geschickt werden. Er und die meisten seiner Freunde flohen daher aus dem Land. Er wollte sein Zuhause und seine Eltern nicht verlassen, „ich will aber kein Kriegsverbrecher werden“, bekräftigt er.

„Niemand weiß, was die Regierung als Nächstes tut“
Zuerst wollte Pavel nach Georgien fliegen, Flugtickets waren aber innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Der Musiker packte seinen E-Bass und all seine Sachen ein und fuhr per Mitfahrgelegenheit von Moskau Richtung kasachischer Grenze. Die Reise dauerte zwei Tage, er schlief und aß nicht, immer saß die Angst im Nacken, dass die Grenze geschlossen sein könnte. Derartige Gerüchte gingen um. „Vielleicht war es Panik“, sagt der gebürtige Moskauer Pavel, „aber in Russland weiß man nie, was die Regierung als Nächstes tut.“ 

Das Auto setzte sie neun Kilometer vor der Grenze ab, mit Hunderten anderen, hauptsächlich Männern aus Russland, harrten sie 16 Stunden im Freien aus. Sitzgelegenheiten oder Toiletten gab es nicht. „Es war die Hölle“, sagt Pavel. Schließlich konnte er die Grenze passieren und reisten nach Astana, die Hauptstadt von Kasachstan, weiter. Mit dem Flieger ging es weiter nach Tiflis, von der georgischen Hauptstadt weiter nach Armenien. 

Mit dem Zug durch die kasachische Steppe (Bild: zVg)
Mit dem Zug durch die kasachische Steppe
Pavel machte einen Zwischenstopp in Tiflis - „Russland ist sch****“ ist an der Wand zu lesen. (Bild: zVg)
Pavel machte einen Zwischenstopp in Tiflis - „Russland ist sch****“ ist an der Wand zu lesen.

„Ich stehe im Geschichtsbuch“
Derweil kam der Musiker bei Freunden unter. Er gibt E-Bass-Unterricht und ist auf der Suche nach einer Wohnung - ein schwieriges Unterfangen, da viele Russen nach Jerewan geflohen sind. Hier braucht man weder Visum noch einen speziellen Aufenthaltstitel. Pavel überlegt, sich mit anderen zu vernetzen und wieder gegen Putins Regime zu protestieren. Der studierte Historiker hat schon vor zehn Jahren an Demonstrationen gegen den Machthaber im Kreml teilgenommen. „Leider haben wir es nicht geschafft, eine Änderung herbeizuführen“, sagt er. Hoffnungslos ist Pavel trotzdem nicht, er schöpft Mut daraus, Teil großer Umwälzungen zu sein: „Ich stehe im Geschichtsbuch.“ Jetzt sei Russland ein totalitäres Land, „aber wenn Putin und seine Leute sterben, gibt es vielleicht in 10, 20 Jahren, Veränderung“, hofft der Russe.

Wegen der westlichen Sanktionen wird die russische Wirtschaft heuer wohl stark schrumpfen, Pavel selbst hat aber bei seinem Leben in Moskau kaum Auswirkungen zu spüren bekommen. „Gut, es gibt kein Coca-Cola, keinen McDonald‘s, keinen IKEA mehr, aber man kann auch ohne Coca-Cola leben“, sagt Pavel. Seiner Meinung nach dürften die Strafmaßnahmen erst in ein paar Jahren Wirkung zeigen. 

„Ich hatte jede Minute Angst“
Oleg Orlov hat zusammen mit Pavel in Moskau Geschichte studiert. Er unterrichtete Geschichte an einer Oberstufenklasse in der russischen Hauptstadt, zu gehen fiel ihm sehr schwer. Er wollte seine Schüler und seine Familie nicht zurücklassen. „Aber als die Mobilmachung ausgerufen wurde, hatte ich jeden Tag, jede Minute Angst“, schildert Oleg. Er beriet sich mit einer Anwältin, die ihm klarmachte, dass man sich kaum rechtlich gegen den Einberufungsbescheid wehren kann. Seine Frau und seine Kinder unterstützen ihn. „Meine jüngere Tochter sagte, worauf wartest du, geh nach Kasachstan!“, sagt der 33-Jährige. Er verließ Moskau Ende September mit dem Zug. „Es war klug, mit dem Zug zu fahren, dort wurden keine Fragen gestellt“, sagt er. Im selben Waggon saß ein Schwarzer, über ihn machten sie rassistische Witze - sagten etwa „Der Schwarze will nicht kämpfen“, schildert Oleg. Aber auch er durfte ausreisen.

In Kasachstan halfen ihm Freunde, ein Flugticket nach Schymkent zu besorgen, rund 100 Kilometer von der usbekischen Grenze entfernt. Mit dem Taxi fuhr Oleg an die Grenze, dann ging er weiter Fuß nach Taschkent. Hier hat er Arbeit als Kindergärtner gefunden. „Es könnte sein, dass ich der erste Mann in Usbekistan bin, der in einem Kindergarten arbeitet“, lacht er. 

Seit Jahren Putin-Gegner
Wie Pavel war auch Oleg von Anfang an gegen den Krieg in der Ukraine. Schon seit er ein Teenager war, ging er gegen das Regime auf die Straße. 2014 war Oleg im Zentrum Moskaus bei einer großen Demonstration gegen die Annexion der Krim dabei. Als Geschichtslehrer versuchte der 33-Jährige mit seinen Schülern über den Krieg zu reden - ohne ihn offiziell so nennen zu dürfen. „Es ist keine direkte Kritik möglich, aber ich habe ihnen etwa Bilder vom Afghanistan-Krieg und vom Zweiten Weltkrieg gezeigt und wir haben Vergleiche zu heute gezogen“, sagt Oleg. 
Vor zwei Jahren unterrichte er in einer ländlichen Region in Zentralrussland. „Einer meiner Schüler, den ich dort hatte, ist vor kurzem in der Ukraine getötet worden“, erzählt der Lehrer sichtlich emotional im Videotelefonat mit krone.at. 

Offiziell verkündete der Bürgermeister von Moskau am 17. Oktober, dass die Mobilmachung in der Hauptstadt beendet wurde. Könnten die beiden jetzt ohne Risiko zurück? Laut Pavel ist solchen Worten nicht zu trauen: „Krieg darf in Russland nicht Krieg genannt werden, Worte haben keinen Bezug zur Realität mehr.“ Bis der Krieg vorbei ist, will er nicht zurück in seine Heimat. Pavels Freundin ist noch in Moskau, er hofft, dass sie bald nachkommen kann. Auch Geschichtslehrer Oleg glaubt den offiziellen Ankündigungen nicht. Solange der Krieg tobt, ist für ihn das Risiko zu groß, um zurückzukehren. Wie es weitergehen soll, weiß er nicht, „Es ist sehr hart einzusehen, dass ich nicht zurückkann“, sagt der 33-Jährige. Er hält regelmäßig Kontakt zu seiner Familie und chattet auch mit seinen ehemaligen Schülern. 

Pavel und Oleg gehören zu einer kleinen Minderheit in Russland. Die allermeisten werden von der Propaganda geblendet und befürworten die Invasion in der Ukraine. „Mein Vater hat Putin unterstützt, aber als wir von der Teilmobilmachung hörten, riet er mir, das Land zu verlassen. Wenn im Krieg die eigene Familie an die Front geschickt werden soll, dann ändert man seine Meinung“, sagt Pavel. 

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