Bald live in Wien

Placebo: „Wir sind die Bewahrer des Mystischen“

Wien
01.11.2022 11:00

Neun Jahre haben sich Placebo mit ihrem aktuellen Studioalbum Zeit gelassen, sich dafür aber einmal mehr neu erfunden und die engen Grenzen der Öffentlichkeitswirksamkeit neu abgesteckt. Vor dem Gig in der Wiener Stadthalle erzählt uns Frontmann Brian Molko, warum er Tiere lieber hat als Menschen, wieso er froh ist, vor dem Internetzeitalter jung gewesen zu sein und warum er nichts von Social-Media-Plattformen hält.

„Krone“: Brian, euer aktuelles Album „Never Let Me Go“ wirkt ein bisschen mehr wie eine klangliche Neuerfindung, als das vielleicht auf den letzten Alben der Fall gewesen wäre. Woran liegt das?
Brian Molko:
 Das ist gut möglich. Wir versuchen uns mit jedem Album aufs Neue neu zu erfinden und es gibt bei Placebo keine zwei Alben, die nach derselben Formel funktionieren. Das bemerkt man anderswo oft, aber nicht bei uns. Würden wir seit 25 Jahren nur „Nancy Boy“ und „Pure Morning“ spielen, dann wären wir schnell gelangweilt. Manche Alben sind erfolgreicher, andere weniger, aber die Hauptmotivation für uns als Künstler ist es immer, uns weder musikalisch, noch inhaltlich zu wiederholen. Stefan und ich sind sehr unterschiedlich an das neue Album rangegangen. Wir haben uns dafür quasi gehäutet und der Band viel Zeit gegeben, um die neue Haut reifen zu lassen. 2018 haben wir uns richtig an die Arbeit gemacht. Dabei haben Stefan und ich uns bewusst an die frühen Tage zurückerinnert, als wir zusammen mit einem Vierspurgerät die Demos auf einer Kassette aufgenommen haben. Damals waren wir im Wohnzimmer, dieses Mal eben in einem selbstgebauten Studio, das wir ganz nach unseren Wünschen gestaltet haben. Wir haben schnell realisiert, dass wir genauso klingen könnten, wie wir wollen.

Die Möglichkeiten, die vor uns lagen, waren unendlich - es gab überhaupt keine Grenzen und Regeln. So viel Freiheit kann einem auch Angst einjagen, aber es war vor allem wahnsinnig aufregend. Wir wollten nie eine Vermächtnis-Band werden, die sich nur auf Jubiläen und alte Alben beruft. Etwas Schlimmeres kann ich mir gar nicht vorstellen. Insofern ist der Prozess der ständigen Neuerfindung für uns unerlässlich. Der Zeitraum zwischen dem letzten Album „Loud Like Love“ und „Never Let Me Go“ betrug fast neun Jahre und war länger als je zuvor zwischen zwei Alben. Es wäre völlig kontraproduktiv gewesen, diesen Abstand nicht für einen total neuen Sound zu nützen. Wir mussten für „Never Let Me Go“ ein eigenes, neues Universum erschaffen, weil wir uns schon so lange im alten aufgehalten haben, dass es ziemlich langweilig wurde. Das bedeutet, dass die alten Songs, die wir bei Konzerten spielen, auch in dieses Universum passen müssen. Manche Songs tun das, „Nancy Boy“ tut das unglücklicherweise nicht.

Gibt es überhaupt diese eine Identität, die Placebo ausmacht? Oder sind es verschiedene, vielzählige, die sich immer wieder auf die alten Identitäten schichten?
Unsere Karriere ist im Prinzip eine durchgehende Identitätskrise. Wir haben zum Beispiel keine Instagram-Accounts, um unsere privaten und intimen Momente zu teilen. Wir brauchen nicht die Bestätigung und Bewertung des Publikums, um unsere authentischen Wesen leben zu können. Wir verweigern uns seit langer Zeit dagegen, dass unsere Identität von anderen Menschen kreiert wird, sondern belassen diese Verantwortung lieber bei uns selbst. Journalisten, Fans und andere Menschen müssen Dinge unweigerlich in eine Nische packen, damit sie sie zu verstehen glauben. Wir hingegen reißen diese Nischen in kleine Stücke auseinander. Dort steckt unser wahres Ich.

Wenn ihr euch den öffentlichen Social-Media-Plattformen entzieht, dann muss doch das bloße Rampenlicht als Künstler für euch wie ein Fluch sein?
Es geht mehr um den direkten Kontakt, der mir viel zu viel ist. Als ich noch in London lebte, passierte es immer wieder mal, dass Leute an meiner Tür klingelten oder vor meiner Einfahrt übernachteten. Schwierig ist der Showbusiness-Aspekt. Wenn die Leute deine Privatsphäre als öffentlich betrachten, weil sie glauben, sie hätten ein Anrecht darauf. Diese Leute werden dann immer enttäuscht sein, denn was die Menschen sehen ist genau das, was wir den Leuten geben wollen. Wir entscheiden, was von uns und Placebo in die Öffentlichkeit geht. Der Rest gehört uns selbst.

Anonymität war auch für euch am Karrierebeginn wesentlich einfacher zu bewerkstelligen, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte und Social-Media-Plattformen noch nicht einmal existierten.
Man darf nicht vergessen, dass ich ein ganzes Leben führte, bevor das Internet groß wurde und die CCTV-Überwachungskameras in jeder Ecke Großbritanniens installiert wurden. Ich bin in den 70ern geboren und in den 70er- und 80er-Jahren aufgewachsen - ich kann diese beiden Welten gut miteinander vergleichen. Mein Sohn kann das nicht. Er wurde im Zeitalter des Internets geboren und kennt nur eine Seite der Medaille. Aber wir sind die Bewahrer des Mystischen. Ich habe die Zeiten geliebt, als man einer Band nicht zu nah kam und sich seine eigene Fantasie und Vorstellungskraft heranbilden musste, um diese Band wahrzunehmen. So hatte jeder seine eigene Welt, in der seine Band existierte. Heute wird uns ohne Unterlass alles erklärt und dargelegt. Ich selbst musste einigen Bands auf Instagram entfolgen, weil sie sich gezwungen fühlen, die ganze Zeit Dinge aus ihrem Leben zu posten und jedes noch so kleine Detail mit der Welt zu teilen. Wie anstrengend muss das sein? Eigentlich seid ihr Musiker und Kreative, aber alles, was ihr macht, ist Content kreieren. Der Druck auf Musiker liegt heute darauf, Inhalte zu erschaffen. Dafür gibt es von mir aber ein großes „Fuck You“. Wann wurden wir zu solchen Öffentlichkeitsdienern? Wir sind doch Musiker.

Möglicherweise liegt das auch daran, dass man schnell berühmt werden kann und viele junge Künstler den Ruhm und die Öffentlichkeit vielleicht doch vor die Kunst stellen.
Auch die Plattenfirmen wollen das. Große Künstlerinnen wie Halsey oder Charli XCX haben offen darüber gesprochen, dass sie große Probleme mit ihren Plattenfirmen haben, weil es denen mehr darum geht, wie viele Insta-Follower sie haben und was gerade für TikTok produziert wird, und weniger darum, wie der nächste Song klingt. Daran will ich nicht teilnehmen und deshalb kommt ein Majorlabel für mich auch nicht in Frage. Das Gute ist ja - wenn man weniger in die Öffentlichkeit schreit oder spricht, sagt man eigentlich mehr und die Leute hören einem aufmerksamer zu. So bleibt mehr Raum für die wirklich wichtigen Dinge.

Was macht denn für dich Erfolg aus? Geht es um Verkaufszahlen? Ausverkaufte Konzerte? Zufriedenheit beim Komponieren? Applaus?
Meine Lieblingsbands aus der Jugend sind heute noch immer unterwegs und sehr erfolgreich: The Cure, Depeche Mode und mein viel zu früh verstorbener, großer Mentor David Bowie. Das alles sind Künstler, die sich nie einem Marktdruck beugten, die kompromisslos ihrer Kreativität folgten und damit auch eine Reise geschafft haben, die viele Jahrzehnte überdauert. Erfolg bedeutet für mich, ehrlich zu sich selbst zu sein, sich immer wieder neu zu erfinden und niemals vom langen Weg der Reise abzukommen. Das interessiert mich mehr als alles andere.

Würdest du gerne zu einem David Bowie in deiner Art werden? Vielleicht nicht mit all den Alter Egos und Persönlichkeiten, aber mit der Strahlkraft, die er zeit seines Lebens wie ein Prisma vor sich hertrug?
Ich habe wirklich sehr viel Zeit mit David verbracht und bin unglaublich dankbar dafür. All die Zeit, die ich mit ihm verbringen durfte, hat mir mehr gelehrt, ein besserer Mensch als ein besserer Musiker zu sein. Er war eine komplett einzigartige Persönlichkeit, der offen für alle Menschen war. Ich sehe mich nicht so. Die Leute meinen, ich würde Tiere den Menschen bevorzugen und damit liegen sie sicher nicht falsch. (lacht) Ich kenne kein Tier, dass mich bislang jemals enttäuscht hat, wohingegen fast jeder einzelne Mensch das irgendwann einmal tat.

Live in Wien
Am 2. November sind Placebo endlich wieder bei uns zu sehen. Sie bringen ihr neues Album „Never Let Me Go“ und viele Hits von früher in die Wiener Stadthalle. Unter www.oeticket.com gibt es noch Karten und alle weiteren Infos für das Konzerthighlight des Herbstes.

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.

Wien Wetter



Kostenlose Spielechevron_right
Vorteilsweltchevron_right