Vor rund 6.500 Fans präsentierten die unverwüstlichen Brit-Alternative-Rocker Placebo Mittwochabend in der Wiener Stadthalle ihr neues und starkes Album „Never Let Me Go“. Das Problem dabei? Es gab fast nur das neue Album und kaum Hits. Zusätzliche Strafmaßnahmen trübten einen an sich starken musikalischen Abend leider merkbar.
Seit Jahren versuchen selbsternannte Trendsetter und Musik-Futurologen den allgemeinen Niedergang der Gitarrenmusik zu predigen, doch auch wenn der Hip-Hop in den letzten Dekaden spannender und innovativer war, die durch krachende Verstärker gejagten Riffs sind nicht totzukriegen. Fast mühelos schaffte es Placebos neues Album „Never Let Me Go“ wieder an die Spitze der heimischen Albumcharts, in England gab es mit Platz drei gar eine Karriere-Bestleistung zu verbuchen. Auf ihrer laufenden Europa-Tournee projiziert das Duo die bereits eine halbe Stunde vor Konzertbeginn fett auf allen Videowalls eingeblendete Bitte, die Handys möglichst in der Tasche zu lassen und den Moment zu genießen. Wer sich nicht daran hält, wird in den vorderen Reihen von eigens installiertem Security-Personal gerügt, doch die Überraschung des Abends ist: es halten sich nahezu alle daran.
Reden ist Silber
So können sich die beiden besten Freunde Brian Molko und Stefan Olsdal auch wirklich voll und ganz auf das Konzert konzentrieren, denn für Humor oder Zwischenansagen bleibt wenig Raum. Nach dem fünften Song, „Happy Birthday In The Sky“, begrüßt Olsdal die rund 6.500 Fans in der recht luftigen Wiener Stadthalle mit einem saloppen „good evening and welcome, this is ,Bionic‘“. Kurz vor dem Zugabenteil verabschiedet sich dann Chef Molko mit einem wenig emotionalen „thank you very much, see you next time.“ Der Rest des Abends gehört ganz der Musik und bietet keine Verschnaufpause. Wo die teils intimen und manchmal auch recht komplexen Songstrukturen für ein Bier-auf-ex-in-den-Rachen-Festival wie dem Nova Rock noch zu ausgefeilt und daher etwas deplatziert wirken, entfachen sie vor richtigen Fans und einem konzentrierten Publikum ihre ganze Magie.
„Never Let Me Go“ war heuer nicht nur das erste Album nach neun Jahren, es war auch eine geschickte Form von Alternative-Rock-Neuerfindung, ohne die eigene Identität dafür an den Nagel zu hängen. Schon das Eröffnungsdoppel „Forever Chemicals“ und „Beautiful James“ beweist, welch kompositorische Frische im auf zwei Personen verkürzten Bandcamp der Briten einzogen ist. Setzt der Opener noch mit bleischweren Riffs eine erste Duftmarke der nicht geahnten Härte dieses Abends, brilliert auf „Beautiful James“ erstmals Olsdals sanfte Backing-Stimme, die Molkos markant-nasalen Gesang wundervoll verstärkt. Ähnlich wie bei Ed Sheeran oder 30 Seconds To Mars werden die vier Live-Musiker hinter den üppigen Videowalls versteckt, um den Hauptprotagonisten die große Bühne zu lassen.
Späte Highlights
Molko sieht kurz vor seinem 50er wie eine Mischung aus Magnum und Johnny Depp aus, füllt die Halle aber mit einer kräftigen Portion Charisma und viel Rock’n’Roll. Songs wie „Hugz“, „Bionic“ oder das stark anschiebende „Twin Demons“ erklingen live deutlich härter als auf Konserve und geben diesem Konzertabend einen in dieser Form nicht erwarteten, wuchtigen Anstrich. Nach fast jedem Song wechselt Molko sein Stromruder, Olsdal bleibt mit stoischer Ruhe das solide Fundament des Abends, das nur in den zwei intimen und ruhigeren Songs „Too Many Friends“ und „Went Missing“ auf ein blütenweißes Piano wechselt und damit einen weiteren Teil seiner mannigfaltigen Talentpalette offenbart. Im Klassiker „The Bitter End“ steigert man sich gar in ein opulentes Crescendo und die meist schaumgebremsten Fans zeigen in der Schlussphase, was in ihnen steckt. „Slave To The Wage“, „For What It’s Worth“ oder „Song To Say Goodbye“ sei Dank.
Placebo begehen den bereits oft getätigten Kardinalfehler der eigenen Überhöhung. „Pure Morning“ oder „Every You, Every Me“ finden sich ebensowenig auf der Setlist wie „Nancy Boy“, dessen Songtitel man kurioserweise für gutes Geld in der Saal-Aula auf gelben T-Shirts verkauft. Das nennt man wohl Ironie auf einer speziellen Metaebene. Den Wurlitzer hat Molko noch nie gemacht, sich aber - trotz des starken neuen Albums - dermaßen gegen die vielen Preziosen der eigenen Diskografie zu verwehren, muss man angesichts der stattlichen Eintrittspreise auch nicht kritiklos gutheißen. Die enervierende Kontrollsucht, die Band im Jahr 2022 von möglichst allen digitalen und virtuellen Selbstverständlichkeiten fernzuhalten, mag ehrbar sein, wirkt aber auch ein bisschen plump und arrogant. Wer jedenfalls das große Miteinander und „gemeinschaftliche Erlebnis“ propagiert, der muss die Securitys auch nicht extra darauf hinweisen, bei jedem kleinen Erinnerungsfoto mit der blendenden Taschenlampe zu drohen.
Endlich den Trott durchbrochen
Abseits dieser auffälligen Schönheitsfehler sind Placebo aber immer noch ein Paradebeispiel für eine würdevoll alternde Band, die sich nicht mit den Relikten der frühen Tage aufhalten muss, sondern fortan eine relevante Stimme am Genre-Himmel ist. Die Glanzmomente des Abends folgen tatsächlich im Zugabenteil. Das Kate-Bush-Cover „Running Up That Hill“ beschließt den knapp 100-minütigen Gig und man muss Molko und Olsdal zugestehen, dass sie lange vor dem globalen „Stranger Things“-Netflix-Hype Hand an den Kulttrack gelegt haben. Das wahre Highlight ist aber ein mit Geigenklängen verstärktes und spannend ausladendes „Fix Yourself“, bei dem die ungezwungene Spielfreude das schiere Runterpeitschen des Sets zu durchbrechen vermag. Sich ein bisschen weniger ernst nehmen, das hat doch zu Halloween beim Prag-Konzert auch geklappt, als sich die Band in gruselige Gewänder hüllte. Manchmal ist die Musik alleine eben doch nicht alles und zum guten Charisma gehört definitiv Selbstironie.
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