Taxi-Geschichten

Zwischen Briefmarkensammeln und dem Freudenhaus

Wien
26.11.2022 16:00

Wir fahren mit und hören zu. „Krone“-Reporter Robert Fröwein setzt sich auf die Taxi- oder Uber-Rückbank und spricht mit den Fahrern über ihre Erlebnisse, ihre Sorgen, ihre Ängste. Menschliche Geschichten direkt aus dem Herzen Wiens.

Als Zvonimir an einem Taxistand in der Währinger Straße parkt, denkt er sich nicht viel. Das Fahrgastaufkommen hält sich mittwochnachts in Grenzen und auch sonst gibt es wenige Vorkommnisse zu berichten. An der Würstelbude zu seiner Rechten lehnt jemand gemütlich an der Theke und genießt das Burenhäutl mit einem Bier aus einer dunkelblauen Dose, ein paar studentische Nachtschwärmer ziehen sportlich mit ihrem Rädern an ihm vorbei. Nicht jedem gelingt es, zu nachtschlafender Stunde noch eine gerade Linie zu fahren. Ein paar übriggebliebene Lichter von Lokalen und geschlossenen Verkaufsshops spiegeln sich am leicht befeuchteten Gehsteig, nachdem ein ganz kurzer Nieselregen über den Bezirk gezogen ist.

Nach geraumer Standzeit und fehlenden Aufträgen entschließt sich Zvonimir, den Motor in Gang zu setzen, um ein paar Runden zu fahren. Vielleicht gibt es ja Laufkundschaft, auch wenn die in Zeiten der flächendeckenden App-Benützung immer seltener wird. Leicht auf den Bim-Gleisen entlangrutschend, erkennt der Kroate trotz der Dunkelheit schon aus weiter Ferne eine aufblitzende Gestalt. Diese macht keine Anstalten, sich von der Straße wegbewegen zu wollen und nähert sich immer mehr der Fahrbahnmitte. Zvonimir muss abbremsen und sieht einen alten Mann mit Stock, Hut und gebeugter Haltung. Der Mann kommt ihm verloren vor und Zvonimir stoppt sein Auto. Er steigt aus, fragt nach seinem Befinden und bietet ihm seine Hilfe an. Sofort wird er von der Reaktion des alten Mannes überrascht.

Dem geht es offenbar ganz gut und Zvonimir kommt ihm gerade recht. „Er hat mich gefragt, ob ich ein bestimmtes Etablissement in der Burggasse kenne, ich konnte es kaum fassen.“ Kurioserweise fahren wir gerade dieselbe Strecke entlang, als mir Zvonimir von diesem speziellen Vorkommnis aus der ersten Jahreshälfte berichtet. Die spätherbstliche Dunkelheit und der gerade einsetzende Regen erinnern ihn so fotografisch exakt daran, als wäre es erst gestern gewesen. Wie es dein sein kann, dass jemandem, der Tag und Nacht dermaßen viel erlebt, gerade diese Szenerie so prägnant in Erinnerung geblieben ist, beantwortet er wie aus der Pistole geschossen: „Der Mann hat mir erzählt, dass er 85 Jahre alt ist. Er konnte sich nur mit Mühe und schwer auf seinem Stock gestützt halten und wollte unbedingt ins Puff.“ Laufkundschaft fürs Laufhaus also. Ein für Zvonimir unvergessliches Erlebnis.

„Es kommt wirklich nicht alle Tage vor, dass jemand in dieser Verfassung und in diesem stattlichen Alter unbedingt in ein Freudenhaus möchte.“ Im Gespräch während der Fahrt zeigte sich der Mann im Lebenswinter überaus erquickt und vorfreudig, wie Zvonimir mir schmunzelnd versichert. „Vor allem war er sehr erpicht darauf, dass wir die richtige Adresse ansteuern. Er erzählte ohne Punkt und Komma von seinem Stammkundenstatus und wie viele Damen er schon habe kommen und gehen sehen. Dass er der Örtlichkeit immer treubleiben würde, weil alles stets zu seiner Zufriedenheit über die Bühne gegangen wäre.“ Wenn Zvonimir diesen verrückten Abend rekapituliert, muss er instinktiv den Kopf schütteln. „Es gibt im Leben Dinge, die gibt’s eigentlich nicht.“

In seiner fast zehnjährigen Taxler-Karriere sei ihm schon allerhand untergekommen, doch Ereignisse wie diese prägen sich wie eine Narbe in das Erinnerungsvermögen ein. „Ich weiß nicht, wie das rein physisch funktionieren soll, was der gute Herr da vorhatte. Offenbar unterschätze ich ihn und seine Fähigkeiten aber sträflich.“ Schlüpfrige Geschichten und unzweideutige Fahrtenziele sind bei Zvonimirs Nachtschichten Usus. Als die Freudenhäuser während der Pandemie teilweise versperrt waren, sei er für so manchen Stammkunden gar zum Seelentröster geworden. „Für viele ist das ein Hobby. Wie Fußballtraining oder Briefmarkensammeln. Und wenn du dein Hobby nicht ausführen kannst, dann ist das zum Verzweifeln.“ Mittlerweile geht wieder alles seinen aufrechten Gang. Auch für den alten Mann mit der junggebliebenen Libido.

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