Die „Krone“ in Kiew
Die trügerische Normalität des Ukraine-Krieges
Zwischen Solidarität, Hilfspaketen und Luftschutzbunkern: eine europäische Frauendelegation zu Besuch in der ukrainischen Hauptstadt. Die Bomben scheinen fern - sind dann aber plötzlich ganz nah.
Der Winter ist in der Ukraine angekommen, es ist bitterkalt, Schnee bedeckt Straßen und Bäume. Das Weiß lässt die Stadt friedlich erstrahlen, nur noch wenige Panzersperren und vereinzelte Sandsäcke sind zu sehen. Geschäfte, Bars und Restaurants sind gut besucht, auf den Straßen herrscht Stau, die Kulturstätten haben ihre Pforten wieder geöffnet. Der einzige Unterschied zu früher: Wegen der nächtlichen Ausgangssperre ab 22 Uhr beginnt die Opernvorstellung bereits am Nachmittag.
Waren im März nur rund eine Million Einwohner in Kiew, sind es mittlerweile wieder drei Millionen, etwa 80 Prozent der Bevölkerung sind retour. Die Normalität scheint zurückgekehrt zu sein, einfach, weil die Menschen Normalität brauchen. Fliegeralarm, auch mehrmals pro Tag, wird oft nicht ernst genommen. „Wir lassen uns von Putin nicht das Mittagessen verderben“, fasst ein Botschaftsmitarbeiter die allgemeine Stimmung zusammen. Doch die Idylle ist trügerisch, wie sich bald zeigen sollte.
Wir lassen uns von Putin nicht das Mittagessen verderben.
Ein Botschaftsmitarbeiter über die Stimmung in Kiew
Auf Initiative von Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sind acht europäische Politikerinnen (aus Deutschland, Liechtenstein, Kroatien, Rumänien, Lettland, Litauen sowie die Vizepräsidentin des EU-Parlaments) nach Kiew gereist, um den Scheinwerfer auf Frauen und Mädchen im Krieg zu richten.
Die ersten Opfer von Gewalt und Krieg
Frauen sind die ersten Opfer, die Gewalt gegen sie wird als Waffe eingesetzt, sie sind Mütter, die Söhne verloren haben, und Ehefrauen, die ihre Männer begraben mussten. Auf dem Programm stand etwa ein Treffen mit der First Lady der Ukraine, Olena Zelenska, sowie eine Diskussion mit Studentinnen.
Die Politikerinnen hatten nicht nur Solidarität und schöne Worte, sondern auch Taten im Gepäck. Aus Österreich kommen etwa 200.000 Euro für die Aufklärung von Kriegsverbrechen, 105.000 Euro für Ausrüstung und Training in digitaler Forensik sowie Hilfsgüter für den Winter. Liechtenstein spendet 500.000 Schweizer Franken für die Zelenska-Stiftung, Deutschland rund fünf Millionen Euro über das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen.
Fliegeralarm - der Besuch wird jäh unterbrochen
In einer Betreuungsstelle für Kriegsopfer wird der Besuch jäh unterbrochen. Während ein Mann aus Mariupol vom Beschuss seines Hauses und seiner Verletzung am Bein, die erst neun Tage später behandelt wurde, weil er sich aus Angst vor den Russen nicht ins Krankenhaus traute, berichtet, brechen die Sicherheitsleute den Termin vorzeitig ab. Kurz davor hatte es Fliegeralarm gegeben. Das bedeutet, eine halbe Stunde ist noch Zeit, dann könnten die Raketen einschlagen.
Die Sicherheitsbeamten drängten sofort auf eine Umkehr, doch eine ukrainische Regierungsvertreterin wollte das Treffen mit den Überlebenden unbedingt durchziehen. Schließlich ist der Alarm für sie Alltag, außerdem sollten die Besucher erfahren, was in der Ukraine passiert, und die eindrücklichen Schilderungen hören.
Doch die Nervosität in der Gruppe stieg, und plötzlich wurde schnell zum Aufbruch gemahnt. Die europäische Delegation wurde in zwei Luftschutzbunker gebracht, dort hieß es ausharren für mehr als zwei Stunden. Die Nachrichten, die über soziale Medien und spezielle Nachrichtendienste eintrudelten, waren alles andere als beruhigend. Insgesamt wurden 31 Raketen vom Schwarzen Meer aus auf Kiew abgefeuert, 21 konnte die Ukraine abfangen.
Geschoss verfehlte Ziel und traf stattdessen Haus
Ein Geschoss ging in der Nähe des Betreuungszentrums, wo kurz zuvor die Politikerinnen-Gruppe zu Gast war, nieder. Die russische Rakete verfehlte ihr Ziel, eine Einrichtung der kritischen Infrastruktur. Getroffen wurde stattdessen ein Geschäft, das Haus stürzte teils ein, auf der Straße tat sich ein gewaltiger Krater auf, Autos brannten völlig aus, überall lagen Trümmer. „Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld“ - diese oft salopp formulierte Redewendung wurde zur erschreckenden Wahrheit.
Opfer auf der Straße
Die stellvertretende Innenministerin der Ukraine erläuterte der Delegation vor Ort, was passiert war. Hier starben drei Menschen, unter ihnen eine 17-Jährige, die gemeinsam mit ihrem Freund - er wurde schwer verletzt - zufällig in der Gegend spazieren war. Und da fiel der Blick im Dunkeln auf die drei Leichen, die, notdürftig zugedeckt, noch auf der Straße lagen. Wohl kein Zufall. Die Toten waren von den ukrainischen Behörden absichtlich noch nicht abtransportiert worden, die Europäer sollten sie sehen, sollten die blutige Realität spüren. Wahrhaftiger und grauenhafter kann man nicht zeigen, was Krieg bedeutet.
In Kiew musste am Mittwochabend das Wasser abgedreht werden, auch Strom gab es nur noch vereinzelt. Generell ist die Energieversorgung derzeit eines der größten Probleme im Land - und der Winter hat gerade erst begonnen.
„Das Schlimmste ist, sich an den Krieg zu gewöhnen“, sagte die sichtlich bewegte Ministerin Karoline Edtstadler, als die Delegation nach einer zwölfstündigen Zugfahrt von Kiew nach Polen wieder EU-Boden betreten hatte. Für die Menschen in der Ukraine sind die Bombardements nichts Außergewöhnliches mehr, sie haben gelernt, irgendwie damit zu leben, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. „Aber die Welt darf sich nicht daran gewöhnen“, betont Edtstadler.
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