Bevölkerung zermürbt
Kein Strom, keine Heizung: „Stadt Kiew leert sich“
Nach dem siebten massiven russischen Raketenangriff auf ukrainische Energieversorgungssysteme seit Anfang Oktober ist vor allem die Lage in Kiew besonders kritisch. Freitagvormittag hatte noch die Hälfte der Verbraucher in der Hauptstadt keinen Strom. Dadurch funktionieren auch vielerorts die Heizungen nicht. Eine Belastungsprobe für die Psyche der Bürger. Denn die anhaltenden russischen Angriffe vertreiben immer mehr Menschen. „Wir erwarten weitere Bevölkerungsbewegungen in den nächsten Monaten. Wir sehen dies schon in Kiew, die Stadt leert sich“, heißt es seitens des Roten Kreuzes.
Bei Temperaturen noch leicht über dem Gefrierpunkt bekamen die Kiewer in ihren dunklen und ungeheizten Wohnungen einen ersten Vorgeschmack darauf, was ihnen und Millionen anderen Ukrainern in den kommenden drei Wintermonaten bevorstehen könnte. Bürgermeister Vitali Klitschko schwor schon vor den jüngsten Angriffen seine geschundene Stadt auf den „schlimmsten Winter“ seit 1945, seit dem Zweiten Weltkrieg, ein.
15 von 24 ukrainischen Regionen in ähnlicher Lage
Nach Angaben des UNO-Nothilfebüros (OCHA) war am Freitagmorgen die halbe Stadt Kiew ohne Strom. Weil der Wasserdruck niedrig sei, hätten vor allem in den oberen Etagen von Wohnhäusern viele kein Wasser mehr, sagte ein OCHA-Sprecher in Genf. Insgesamt seien 15 von 24 ukrainischen Regionen in ähnlicher Lage. Insgesamt seien seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf das Nachbarland im Februar knapp 400 Generatoren geliefert worden, vor allem, um Krankenhäuser und Schulen zu versorgen. Tausende weitere würden in den nächsten Wochen bereitgestellt.
Chaotische Zustände in Spitälern
In einem Operationssaal im Herzinstitut der ukrainischen Hauptstadt hielt laut Medienberichten eine Krankenschwester eine Akkulampe auf das offene Herz eines Patienten. Eine Kollegin mit Stirnlampe reichte den Ärzten Tupfer und Instrumente. Im Hintergrund piepte ein Herzmonitor. „So operieren wir heute am Herzen“, erklärte der bekannteste Herzchirurg des Landes, Borys Todurow. Und fügte hinzu: „Freut Euch, Russen, heute war ein Kind auf dem Operationstisch, und der Strom fiel komplett aus. Prachtkerle. Sehr humanitäre Leute.“
Freut Euch, Russen, heute war ein Kind auf dem Operationstisch, und der Strom fiel komplett aus. Prachtkerle. Sehr humanitäre Leute.
Borys Todurow, der bekannteste Herzchirurg in der Ukraine
Klitschko: „Wasserversorgung wiederhergestellt“
Doch trotz der Sorgen und chaotischen Zuständen vermeldete Klitschko Freitagmittag - knapp 24 Stunden nach den russischen Angriffen - den ersten Erfolg. „Die Wasserversorgung ist in allen Stadtteilen wiederhergestellt“, schrieb der 51-Jährige auf Telegram. Doch gebe es noch nicht überall in ausreichendem Maße Wasserdruck. Und in der Tat: In der Innenstadt verwandelte sich das erste Tröpfeln und Röcheln des Wasserhahns nur allmählich in einen normalen Wasserstrahl.
Durchhalteparolen
Das Problem mit der Stromversorgung erweist sich als hartnäckiger. In stromlosen Stadtteilen mit U-Bahnstationen gehen die Einwohner zu den Stationen, um sich am dort funktionierenden mobilen Internet mit Informationen zu versorgen. In anderen Vierteln muntern sich die Menschen in den dunklen Hochhausschluchten mit lautem Rufen gegenseitig auf. Verfluchungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin geben deutlich zu verstehen, dass der Blackout den Durchhaltewillen nicht beeinträchtigt.
Panikkäufe, Schlangen an Tankstellen
Vorerst nahmen die krisengewohnten Ukrainer die Situation jedoch vor allem mit Gleichmut auf, wenngleich es in einigen Stadtteilen zu Panikkäufen kam und sich Schlangen an Tankstellen bildeten, die mit Stromgeneratoren ausgestattet waren. Stoisch standen Menschen aller Altersgruppen mit Wasserbehältern und Eimern an den Brunnen der Hauptstadt an. Kinder spielten beim Warten mit leeren Fünfliter-Plastikbehältern, während die Erwachsenen teils in Gruppen zusammenstanden und sich unterhielten.
Lesen Sie auch:
Bei einem Besuch in Kiew hat der britische Außenminister James Cleverly der Ukraine Rettungswagen und weitere praktische Unterstützung versprochen. „Während der Winter hereinbricht, versucht Russland, die ukrainische Entschlossenheit durch brutale Angriffe auf Zivilisten, Krankenhäuser und Energieinfrastruktur zu brechen“, sagte der konservative Politiker am Freitag in Kiew der britischen Nachrichtenagentur PA zufolge. „Russland wird scheitern.“
Cleverly traf in Kiew den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Von der Begegnung teilte er im Anschluss ein Foto auf Twitter. „Großbritannien unterstützt Sie mit Taten - nicht nur Worten“, schrieb er dazu an den Präsidenten gerichtet. Konkret versprach der Minister 24 Rettungswagen sowie sechs gepanzerte Fahrzeuge. Außerdem will London den Aufbau von zerstörten Schulen und Schutzräumen sowie andere Programme mit drei Millionen Pfund (rund 3,5 Mio. Euro) unterstützen.
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.