Rücktritt gefordert?

Selenskyj vs. Klitschko: Burgfrieden wird brüchig

Ausland
27.11.2022 13:07

Seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine vor neun Monaten galt in Kiew ein stillschweigend vereinbarter Burgfrieden. Solange die Armee von Kremlchef Wladimir Putin im Land steht, sollte innenpolitischer Zwist in den Hintergrund rücken und dort auch bleiben. Nun aber wurde dieser Konsens aufgekündigt - ausgerechnet von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Ex-Schauspieler rügte öffentlich die Stadtverwaltung von Kiew unter Bürgermeister und Ex-Boxer Vitali Klitschko.

Vorausgegangen war eine weitere russische Raketenattacke auf die Energieversorgungssysteme der Hauptstadt und anderer Orte. Dadurch kam es praktisch überall in der Ukraine zu massiven Stromausfällen, die nur langsam behoben werden. Selenskyj suchte sich jedoch allein die Hauptstadt für öffentliche Schelte aus. „Viele Kiewer waren über 20 oder sogar 30 Stunden ohne Strom“, bemängelte der Staatschef per Video. Er erwarte vom Rathaus eine bessere Arbeit. Namen nannte er keine. Auch so wurde klar, wen er meinte: Klitschko.

„Miserable Punkte der Unbesiegbarkeit“
In der Hauptstadt seien nach Tagen noch immer 600.000 Haushalte ohne Strom, sagte Selenskyj bei dem Auftritt am Freitagabend. Im schwarzen Kapuzenpullover verwies er auf ein von ihm persönlich angekündigtes Projekt, die „Punkte der Unbesiegbarkeit“. An diesen Stellen in der Stadt soll sich jeder wärmen und mit Strom und Internet versorgen können. „Faktisch sind nur diejenigen Punkte normal ausgestattet, die vom Katastrophenschutz und am Bahnhof aufgebaut wurden“, tadelte Selenskyj jedoch. Der Rest sei in miserablem Zustand.

„Diener des Volkes“ beim Heizstellen-Check
Um seine Aussage zu belegen, schickte der 44-Jährige mehrere Abgeordnete seiner Partei „Diener des Volkes“ zum Heizstellen-Check. Fraktionschef David Arachamija rapportierte später, dass mehr als 360 Aufwärmpunkte geprüft worden seien. In Schulen und Kindergärten hätten Mitarbeiter auf eigene Kosten Tee und Gebäck mitgebracht. „Doch hat die Stadtregierung den Crashtest nur mit ,schlecht‘ bestanden und bisher keine Schlussfolgerungen gezogen.“ Zugleich lobte Arachamija das Management der ukrainischen Bahn: „Sie haben 200 ,Waggons der Unbesiegbarkeit‘ und eine ganze Festung“, womit er den Hauptbahnhof in Kiew meinte.

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Die Stadtregierung hat den Crashtest nur mit ,schlecht‘ bestanden und bisher keine Schlussfolgerungen gezogen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj

Da Klitschko in der Ukraine nur eingeschränkt medienwirksame Möglichkeiten zur Verteidigung hat, bediente sich der ehemalige Boxweltmeister seiner Kontakte im Ausland. Über die „Bild am Sonntag“ rief der 51-Jährige seine Landsleute angesichts der russischen Invasion noch einmal zur Einigkeit auf. „Wir müssen weiter gemeinsam dafür sorgen, das Land zu verteidigen und die Infrastruktur zu schützen.“ Klitschko versicherte, dass es in der Stadt wieder Wasser und Heizung gebe. Nun gelte es, die Stromversorgung wiederherzustellen.

Schleppende Wiederherstellung der Stromversorgung
Dazu zeigte sich der 51-Jährige mit weißem Helm in einem der Heizkraftwerke von Kiew. Vor sowjetischen Armaturen schüttelte er Hände und bedankte sich bei den Mitarbeitern des Unternehmens Kyivteploenerho. „Mehr als 3000 Menschen haben Tag und Nacht dafür gearbeitet, damit wir sagen können, dass fast 98 Prozent der Häuser unserer Stadt mit Fernheizung versorgt sind“, sagte Klitschko. Gleichzeitig gestand das Stadtoberhaupt jedoch, dass weiterhin gut ein Viertel der Kiewer ohne Strom auskommen müsse.

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Mehr als 3000 Menschen haben Tag und Nacht dafür gearbeitet, damit wir sagen können, dass fast 98 Prozent der Häuser unserer Stadt mit Fernheizung versorgt sind.

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko

Sonntagfrüh kam dann endlich die erlösende Nachricht der Kiewer Militärverwaltung: Fast überall in der Drei-Millionen-Stadt gab es wieder Strom. Auch Wasser, Wärme und Mobilnetz seien nahezu vollständig wiederhergestellt.

Selenskyj-Büro forderte schon 2019 Rücktritt von Klitschko
Es ist nicht das erste Mal, dass Selenskyj und seine Administration gegen Klitschko schweres Geschütz in Stellung bringen. Bereits nach Selenskyjs Amtsantritt 2019 forderte der damalige Chef des Präsidentenbüros, Andrij Bohdan, den Rücktritt des Hauptstadtbürgermeisters, der seit 2014 im Amt ist. „Er hat die Kontrolle über die Situation in der Stadt im Verlaufe der vergangenen fünf Jahre verloren“, so Bohdan damals.

Viele Cafés und Restaurants im Stadtzentrum hatten nach den russischen Raketenangriffen in Kiew keinen Strom mehr. (Bild: ASSOCIATED PRESS)
Viele Cafés und Restaurants im Stadtzentrum hatten nach den russischen Raketenangriffen in Kiew keinen Strom mehr.

Es galt fast als ausgemacht, dass Selenskyj Klitschko zumindest kaltstellen werde. So sollte das Amt des gewählten Bürgermeisters vom Posten des Chefs der Stadtverwaltung getrennt werden. Klitschko wäre damit zu einer Art Grüßaugust geworden. Doch es kam anders: Medienberichten zufolge gelang es Klitschko über Kontakte zum Selenskyj-Vertrauten Andrij Jermak, seine Degradierung zu verhindern. Inzwischen leitet Jermak das Präsidentenbüro.

Zweiter Anlauf, um Klitschko bei Wahl auszuschalten
Nach Meinung mancher Beobachter scheint Selenskyj nun einen zweiten Anlauf nehmen wollen, um Klitschko als potenziellen Gegner bei der 2024 anstehenden Präsidentenwahl auszuschalten. Bis dahin gilt es freilich in erster Linie, den Krieg zu beenden.

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