Der ukrainische Historiker Andrij Kudrjatschenko ist Direktor des Instituts für Weltgeschichte der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, das die dortige Regierung berät. Mit krone.at sprach er über die Fallen, in die Putin getappt ist, über die vertrackte Situation bei Verhandlungen und eine mögliche Zukunft für die Krim.
krone.at: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert mehr als 300 Tage - viel länger als sich Putin erhofft hat. Wie sehen Sie die aktuelle Situation?
Andrij Kudrjatschenko: Russland geht jetzt mit solch einer Brutalität vor, weil Putin verärgert ist über seine Verluste. Sie haben gehofft, wie im Jahr 2014, in den großen russischsprachigen Städten die „Russki Mir“, die russische Weltanschauung, durchsetzen zu können. Es war sogar komisch: Die russische Seite hat in der Vorbereitung für ihre Aggression für Propaganda und Kollaborateure fast fünf Milliarden Dollar bezahlt. Prorussische Ukrainer behaupteten, es gebe in fast jeder großen Stadt 2000 junge starke Leute, die die russischen Militärkräfte unterstützten. Moskau hat diese Propaganda selbst geglaubt (lacht). Aber das gab es nicht einmal in der russischsprachigen Stadt Charkiw, 50 Kilometer von der Grenze. Man kann das nicht von heute auf morgen ändern.
In Tschetschenien, Syrien und Georgien hat Putin mit seiner militärischen Vernichtungspolitik im Großen und Ganzen gewonnen. Aber in unserem Fall ist es ganz anders. Dieser Krieg verändert die Lage der Ukraine und die von Europa. Entscheidend war, dass Russlands Feldzug über die Grenze hinweg ging. Es wurde nicht mehr nur in den Ostgebieten gekämpft, wo man streiten kann, wer angefangen hat. Ein Grund für Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, war der Erfolg der russischen Operation in Kasachstan vor einem Jahr. Dort war der Präsident auf seiner Seite und es gab keine bewaffneten Gegner, sie konnten einfach Soldaten in Flugzeuge laden und hinschicken. Zu Beginn der Invasion in vollem Umfang haben die Russen auch versucht, auf ukrainischen Flughäfen zu landen, aber unsere Kräfte haben die Flugzeuge und Hubschrauber abgeschossen.
Ihr Institut erarbeitet Analysen für Staatsorgane und berät bei Bedarf das ukrainische Außenministerium. Sie sagen, es gibt verschiedene Meinungen über die Grenzen im Osten. Welche Perspektive sehen Sie für Verhandlungen mit Russland? Selenskyj selbst sagt, er möchte die Krim und Donezk und Luhansk zurückerobern.
Ich kann es mit einem Sprichwort sagen: Der Appetit kommt beim Essen. Unsere Bataillone wollen weitere Gebiete zurückerobern. Mit Hilfe aus den USA, der EU und Großbritannien ist es möglich, sogar die früher von der Weltgemeinschaft anerkannten staatlichen Grenze wiederzubekommen. Die russische Duma hat die Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja zu russischem Territorium erklärt. Moskau will diese Regionen niemals aufgeben, aber die Region Cherson haben die ukrainischen Streitkräfte zurückerobert (lacht). Dort lehnen die Menschen die „Russki Mir“ ab. Aber auf der Krim ist die Situation anders. Wir können streiten, ob das Referendum damals freiwillig war, viele Leute dort haben jedenfalls eine prorussische Linie.
Welche Perspektive kann es für die Menschen dort geben?
Es ist schwierig. Es gibt bei uns zum Beispiel ein Gesetz gegen Kollaborateure, und wenn morgen die ukrainischen Truppen ein weiteres Gebiet erobern, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Leute womöglich ihre Nachbarn beschuldigen.
Selbst wenn die Ukraine siegt, kann Russland seine Kräfte neu sammeln und einen neuen Krieg starten.
Andrij Kudrjatschenko
Also mit Russland verhandeln und die Krim aufgeben? Andere meinen, man muss auf einen militärischen Sieg der Ukraine hoffen.
Es gibt in jeder Frage zwei oder mehr Meinungen, und in dieser besonders. Ein Großteil der russischen Bevölkerung unterstützt den Diktator und seinen brutalen Krieg. Jeden Tag werden Kinder, Frauen, Alte getötet, Wohngebäude zerstört. Deswegen denken viele Leute, wir müssen einen Sieg erreichen. Aber selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte die Russen aus dem Land vertreiben, kann Russland seine Kräfte neu sammeln und einen neuen Krieg starten. Laut dem ukrainischen Oberbefehlshaber Waleryj Saluschnyj besteht die Gefahr, dass die Reserven eingezogen werden könnten. Wir reden hier von Millionen von Männern.
Russland könnte neue Soldaten einziehen, weil es Rückschläge am Schlachtfeld gibt.
Ich glaube, Putin versteht, dass es nicht mehr so gut läuft. Er hat seine traditionelle Pressekonferenz und einen Auftritt in der Duma abgesagt. Das bedeutet, dass seine Position nicht mehr unumstritten ist. Bei der Pressekonferenz hätten Journalisten unbequeme Fragen stellen können, etwa, wie lang diese „Spezialoperation“ noch dauern soll. Oder: „Was ist diese Operation überhaupt?“ Natürlich wären Friedensverhandlungen besser, aber dafür bräuchten wir ein anderes Regime in Moskau. Wenn das russische Regime zerfällt, wäre das aber auch gefährlich für die Nachbarländer. Denn die russischen Kernwaffen sind noch immer da, und die nukleare Gefahr ist größer, wenn Russland in mehrere kleineren Staaten zerfällt. Was da besser ist, ist schwer zu sagen. Macron hat gesagt, man muss auch Moskaus Interessen berücksichtigen. Ich glaube, Putin sucht eine passende Variante für sich. Sonst könnte es ihm gehen wie Ceausescu vor 33 Jahren: Als er keine Unterstützung von Moskau mehr bekam, zerfiel sein Regime, er wurde hingerichtet.
Wie sehen Sie die Position des französischen Präsidenten Emmanuel Macron?
Wir wissen nicht genau, welche Strategie Paris hat. Selenskyj und Macron sind eine Generation, sie haben sich am Anfang besser verstanden. Aber zurzeit sehen wir, Macron hat seine eigenen Interessen. Ich glaube, aktuell macht er große geopolitische Politik. Das hat auch historische Gründe: Im Zweiten Weltkrieg hat die Sowjetunion durchgesetzt, dass Frankreich auch als Siegerstaat gilt. In jedem Fall spielt Paris eine sehr wichtige Rolle. Frankreich ist im Gegensatz zu Deutschland ein Atomstaat und Mitglied im UNO-Sicherheitsrat.
Aber auch Deutschland spielt eine wichtige Rolle in dem Konflikt …
Angela Merkel hatte großen Einfluss auf Putin. Es war für mich erstaunlich, dass sie jüngst in einem Interview gesagt hat, dass sie mit dem Minsker Abkommen, in dem sie fast jeden Satz selbst formuliert hat, der Ukraine Zeit geben wollte. Ein Jahr war Merkel stumm wie ein Fisch, jetzt kann sie als ehemalige Kanzlerin ihre Position erklären. Sie hat gesagt, dass es vielleicht keinen Krieg gegeben hätte, wenn sie noch Kanzlerin wäre. 2018 war die Position von Berlin noch, dass man in den Ostgebieten Donezk und Luhansk, wo die sogenannten Separatisten herrschen, Referenden abhalten lässt. Deutschland bestand darauf und hatte als Beispiele Saargebiete von 1955 und DDR 1990 gezeigt. Von uns wurde das abgelehnt. Wenn man das mit den Äußerungen Merkels jetzt vergleicht, klingt das ganz anders. Das ärgert den Diktator Putin.
Putin zeigt seine Brutalität gegenüber jedem: prorussischen, antirussischen Leuten, egal.
Andrij Kudrjatschenko
Sie sprechen von sogenannten Separatisten. Wollen sich manche prorussische Kräfte nicht schon tatsächlich von der Ukraine abspalten?
In der Sowjetunion bevorzugten Militärveteranen, sich in der Pension in der Ukraine niederzulassen, besonders auf der Krim. Vielleicht begrüßten deswegen viele dort das Vorgehen Russlands. Generell gibt es viele russischsprachige Ukrainer, die sich mit der russischen Kultur identifizieren. Seit der russischen Invasion ist alles anders. Niemand kann jetzt prorussisch denken. Putin zeigt seine Brutalität gegenüber jedem: prorussischen, antirussischen Leuten, egal. Er will vernichten. Das zeigt er jeden Tag. Der größere Teil der Leute, die enge Beziehungen zu Russland hatten, denkt jetzt anders. Selenskyj und seine Regierung zeigen, was die Aufgabe jedes Staates ist. Er verteidigt jeden Menschen in seinem Gebiet. Das ist bedeutsam. Sogar Leute aus der sowjetischen Generation sagen: „Warum schickt Putin Raketen? Es ist doch möglich, diese Frage ohne Krieg zu entscheiden.“ Aber Putin ist ein Mörder!
Hat die Invasion Russlands für ein stärkeres Nationalbewusstsein gesorgt?
Als Historiker muss ich Folgendes sagen: Dieser Krieg gegen das ukrainische Volk ist nicht der erste. Es gab militärische Widerstände während der Kosakenzeiten und den brutalen Krieg Moskaus gegen die ukrainische Volksrepublik nach dem Ersten Weltkrieg. In der Sowjetunion vernichtete der Kreml durch seine menschenverachtende Hungersnotpolitik mehr als vier Millionen Ukrainer. Aber es gab auch große gemeinsame Bemühungen des ukrainischen und russischen Volkes und der anderen Völker der ehemaligen UdSSR: der Krieg gegen die Nazis und die Zeiten des Wiederaufbaus. Nach dem Ersten Weltkrieg haben die westlichen Länder eine unabhängige Ukraine nicht unterstützt. Es gab auch ernsthafte innere Streitigkeiten. Schade, dass wir damals die Chance nicht genutzt haben. Jetzt gibt es internationale Unterstützung, Abkommen und die Plattform Ramstein für Militärhilfe und Nachkriegswiederaufbau. Ich möchte noch betonen, dass die ukrainische Identität im Laufe von Jahrhunderten eingraviert wurde. Fast 350 Jahre Zusammenleben im Zarenreich und unter sowjetischer Herrschaft haben nicht alles vernichtet.
Prof. Andrij Kudrjatschenko, Jahrgang 1954, ist seit 2012 Direktor des Instituts für Weltgeschichte der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Er studierte Geschichte in Kyiv und forscht unter anderem zum Holodomor und zum historischen Gedächtnis der Ukrainer.
Sie sehen die Zukunft optimistisch?
Ich glaube, die Ukraine gewinnt in jedem Fall. Natürlich stellt sich die Frage, welches Territorium und mit welcher Bevölkerung. Kurz vor dem Krieg gab es 40 Millionen Einwohner. Etwa zehn Millionen sind insgesamt geflohen. Zurzeit sind allein in Österreich fast 100.000 Flüchtlinge. Wir verlieren viele Leute, Generationen. Wie geht es mit unserem Land, unserer Wirtschaft weiter? Auch Österreich hatte eine schwierige Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg. In der Zweiten Republik hat man hat die eigenen Erfahrungen genutzt, um auf friedlichem Weg Perspektiven zu schaffen. Der friedliche Weg ist der bessere. Gute Perspektiven eröffnen sich in der Zusammenarbeit mit den EU-Staaten, insbesondere mit Österreich, das als einziger Staat des demokratischen Westens eine gemeinsame Geschichte mit westlichem ukrainischem Gebiet hat. Uns vereint nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten in der Gegenwart, etwa die wissenschaftliche Brücke Wien - Graz - Kyiv.
Es gibt viele Ukrainer, die Russisch sprechen, immer wieder gab es Berichte darüber, dass die russische Sprache unterdrückt wird. Gibt es solche Tendenzen?
Diese Tendenzen gab es nach der Revolution 2013/2014. In der ersten Sitzung der Werchowna Rada (ukrainisches Parlament, Anm.) nach dem Sturz von Präsident Janukowitsch wurde ein Gesetz zur Sprache erlassen. Russisch wurde nicht verboten, aber die ukrainische Sprache wurde bevorzugt. In Moskau gab es in den letzten Jahren Kampagnen, dass ukrainische Zentren und Bibliotheken verboten wurden. Nach dem Krieg muss und wird sich das verändern, auch bei uns. In der Ukraine gibt es mehr als 130 Bevölkerungsgruppen, jede von ihnen hat das Recht darauf, ihre Sprache zu sprechen und die Kultur auszuleben. In EU-Ländern gibt es auch Rechte für Minderheiten. Wir brauchen solche Gesetze und müssen sie auch umsetzen.
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