Kurz vor seinem 81. Geburtstag kommt Velvet-Underground-Legende John Cale ins bereits ausverkaufte Wiener Porgy & Bess. Mit im Gepäck hat er sein brandneues Album „Mercy“, auf dem er mit jüngeren Musikerinnen der Indie-Welt eine düstere Bestandsaufnahme der Welt präsentiert. Im experimentellen Art-Rock-Bereich kann ihm weiterhin keiner das Wasser abgraben.
Wenn man von den großen Alten im Rock- und Pop-Business redet, dann bleibt man unweigerlich bei den Rolling Stones, Paul McCartney oder den überlebenden und durchaus noch aktiven Led-Zeppelin-Mitgliedern hängen. Hinter diesen massentauglichen Posterboys der 60er- und 70er-Jahre arbeitete der gebürtige Waliser John Cale in gewohnter Mainstream-Stille eine Zeit lang an seinem (vielleicht abschließenden) Alterswerk „Mercy“, dem ersten Album mit neuen Songs des Velvet-Underground-Mitbegründers seit mehr als zehn Jahren. Wie kein anderer noch lebender Musiker mäandert der im März 81 werdende Kultmusiker zeit seines Lebens zwischen revolutionärem Rock’n’Roll und artistischer Avantgarde. Mit seiner klassischen Ausbildung an Bratsche und Piano war der Art-Rocker der erste, der E- mit U-Musik verband und dessen weitreichende musikalische Visionen dadurch nicht mehr in das engere Hirnkonzept von Lou Reed passten, weswegen es 1968 zum unvermeidlichen Split kam.
Keine Mitte in der Musik
Doch anstatt sich aufgrund existenzieller Ängste zu winden, trat Cale einfach aufs Gaspedal und ging strenggenommen nie mehr davon runter. Er produzierte wegweisende Alben von Patti Smith oder den Stooges, kreierte klanglich mannigfaltige Soloalben zwischen Kammermusik, experimentellem Rock und artifiziellen Post-Punk und schrieb sich seine überbordende Kreativität auch bei diversen Soundtracks vom Leib. Drei geschiedene Ehen und eine über Jahrzehnte ausgelebte Kokainsucht konnten Cales Genius nicht stoppen. Heute lebt er im sonnigen Los Angeles und setzt auf tägliches Fitnesstraining und eine heiße Tasse Kaffee. Wo er im privaten Rahmen mit Fortdauer des Lebens seine Mitte fand, tat er das musikalisch nie - und das ist freilich als großes Kompliment zu verstehen.
Für sein mittlerweile 17. Studioalbum hat sich Cale erneut weder Dogmen noch ungeschriebenen Gesetzen unterworfen, sondern ließ seiner Muse freien Lauf. Die titelgebende Gnade hätte er wohl gerne für die zerrüttete Welt, denn ganz im Gegensatz zu den bornierten Politikern und Wirtschaftslenkern im Boomer-Alter ist sich Cale der hohen Verantwortung bewusst, die seine und die Generationen nach ihm für die Zukunft der Welt haben. „Mercy“ ist zumindest inhaltlich ein Hilfeschrei für ein Miteinander eines Alt-Hippies, der sich aber nicht in träumerische Feelgood-Fantasien und -Klischees versteigt, sondern durchaus weiß, dass man die Welt nur mit harter Arbeit und einer kräftigen Dosis Selbsterkenntnis vorm Exitus retten kann.
Elektronischer Art-Rock
Die vom Klimawandel über Donald Trump und den Brexit bis hin zu Rechtsextremismus und ausgehöhlte Bürgerrechte reichende Themenpalette geht aber nicht gänzlich hoffnungslos über die Ziellinie, wie Songs der Marke „Not The End Of The World“ beweisen. Cale trägt seine teils schweren Inhalte passend mit sonorer Altherrenstimme vor, seine Stärken liegen aber - wie seit jeher - in der Erschaffung sinistrer und memorabler Klangwelten. Die Reise durch die zwölf, meist überlangen Songs auf „Mercy“ haben ganz und gar nichts mit Easy Listening am Hut und changieren zwischen Neo-Soul, Noir-Anklängen, düsterer Elektronik und Art-Rock der futuristischen Sorte. In Songs wie „Time Stands Still“ oder „The Legal Status Of Ice“ ist die Melancholie in Stacheln verpackt, denn trotz all der negativen Strömungen kann von Selbstaufgabe oder Wehleidigkeit keine Rede sein.
An den Songs legte Cale über eine lange Zeit Hand an, manche wurden gar schon 2014 auf Konzerten zum Besten gegeben. Die industrielle Frische von „Mercy“ liegt mitunter auch an einer kräftigen Riege an namhaften Gaststars aus dem Indie- und Alternative-Bereich, die sich ehrfürchtig die Klinke in die Hand geben. So umschmiegt die wunderbare Weyes Blood Cales Stimme in „Story Of Blood“, tobt sich das Animal Collective auf „Everlasting Days“ aus und gibt Sylvan Esso dem genannten „Time Stands Still“ einen frankophilen Touch. Die besten Kooperationen finden sich am Ende. Die anarchische Fat White Family ist der perfekte Soundpartner für „The Legal Status Of Ice“ und die argentinisch-kolumbianische Sängerin Tei Shi hebt das rhythmische „I Know You’re Happy“ in den letzten eineinhalb Minuten noch einmal in ganz neue Sphären.
Persönliches lieber alleine
Bei knapp der Hälfte der Songs hat Altmeister Cale auf Hilfe der jüngeren Generation verzichtet und lässt sich lieber noch einmal selbst erblühen. Mitunter eine dringliche Notwendigkeit, weil Cale in diesen Momenten nicht gegenwarts- und zukunftsgerichtet ist, sondern sich die Zeit für Trauer und Nostalgie nimmt. „Noise Of You“ ist dem 2016 viel zu früh verstorbenen guten Freund David Bowie gewidmet, „Moonstruck (Nico’s Song)“ seiner einstigen Partnerin bei Velvet Underground. Im abschließenden „Out Your Window“ steigern sich der von Streichern durchsetzte Sound und sein Timbre noch einmal in ein fast pathetisches und mahnendes Crescendo, das Botschaft und Sinn des Gesamtprodukts noch einmal kräftig in Erinnerung rufen möchte.
Live im Porgy & Bess
Am 2. März kommt Cale ins Wiener Porgy & Bess, das Konzert ist aber bereits seit Wochen restlos ausverkauft. Vielleicht die letzte Chance, den Großmeister hierzulande noch einmal live zu sehen …
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