Robert Schneiders neue Reihe „Fremd daheim?“ widmet sich Menschen mit migrantischem Hintergrund, die in Vorarlberg ein neues Zuhause suchten und dieses Land wesentlich mitgestaltet haben und mitgestalten. Dabei geht der Autor immer wieder der Frage nach: Sind Sie hier heimisch geworden? Diese Frage hat er auch dem Klavierpädagogen Iván Kárpáti gestellt.
Ein sehr zuvorkommender Herr mit einer leisen, melodiösen Stimme bittet den Fotografen und mich einzutreten. „Sie können sich hier überall in der Wohnung umschauen. Ich habe keine Geheimnisse“, sagt er und führt uns in sein Musikzimmer, wo er sich an den Flügel setzt und ganz aus dem Stegreif ein Klavierstück zu spielen beginnt, das sofort den Raum einnimmt und der lauten Geschäftigkeit des Tages eine atmosphärische Gegenwelt entgegenstellt. Die Klänge einer Mozart-Sonate sind die beste Antwort auf ein Leben im Alarmmodus, das wir alle seit bald drei Jahren leben. Es ist eine Begrüßung ohne Worte, und sie sagt doch mehr als tausend Worte.
Wir sind zu Gast beim Klavierpädagogen Komponisten und Iván Kárpáti - jetzt im Ruhestand -, der Generationen von Vorarlberger Klavierschülerinnen und -schülern ausgebildet hat. In den frühen 80er-Jahren ist er aus Ungarn ins Ländle gekommen, hat ein Musizieren und eine Klavierpädagogik mitgebracht, die hierzulande neu war. Die Früchte seiner Lehrtätigkeit sind Musikerinnen und Musiker, die Karrieren weit über die Landesgrenzen hinaus angetreten haben. Als Beispiel sei nur der international gefeierte Pianist Aaron Pilsan genannt, der gerade dabei ist, die Weltbühne zu erobern.
Robert Schneider: Sie stammen aus Ungarn, Herr Kárpáti. Woher genau?
Iván Kárpáti: Aus Budapest, und zwar von der Pester Seite.
Schneider: War die Musik Ihnen sozusagen in die Wiege gelegt?
Kárpáti: Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Mein Vater hat anfänglich in einer Textilfabrik gearbeitet. Die Mutter war Schneiderin in einer kleinen Manufaktur. Aber mein Vater hatte eine sehr schöne Tenorstimme, sang zuerst im Kirchenchor, später in der Volksarmee. Er liebte Opernarien und besaß einen Plattenspieler. Eines Tages - er hat es mir erst viel später erzählt - hätte ich vor dem Plattenspieler gestanden und neugierig der Musik zugehört. Da nahm er mich sofort zu einer Musiklehrerin, und ich begann Akkordeon zu lernen. Das gefiel mir als Kind wahnsinnig gut. Die schönen Farben, das schillernde Rot. Alles glänzte.
Schneider: Welche Erinnerungen haben Sie als Kind an das kommunistische Ungarn?
Kárpáti: Ich hatte eine sehr harmonische Kindheit. Eine schöne Kindheit. An den Aufstand des Jahres 1956 kann ich mich noch gut erinnern. Ich war damals fünf Jahre alt. Aufgrund der Straßenkämpfe mussten meine Schwester und ich einige Tage lang im Kohlenkeller verbringen. Das war aufregend. Was weiß schon ein Kind?
Schneider: Wie kam es, dass Sie Pianist wurden?
Kárpáti: Die Musikschulleiterin Tante Steffi meinte, es wäre schade, wenn ich nicht ein „vernünftiges“ Instrument spielen würde, und so habe ich mit sieben Jahren bei ihr Klavier gelernt. Dann wurde ich ins Musikgymnasium aufgenommen und bekam eine wunderbare Klavierlehrerin, die Tante Edith...
Schneider: So viele Tanten?
Kárpáti: Nein, nein! Wir nannten sie nur so. Die Musikpädagogik in Ungarn war sehr familiär und deshalb vielleicht auch so fortschrittlich. Die leuchtenden Säulen waren natürlich Béla Bartók und Zoltán Kodály. Ich erinnere mich: Wir mussten an der Franz-Liszt-Musikhochschule, wo ich Klavier und Komposition studiert habe, so um die dreihundert ungarische Volkslieder auswendig singen und analysieren können. Man kann es mit dem Patriotismus auch übertreiben.
Schneider: Musikern sagt man nach, dass sie wenig am politischen Geschehen teilnehmen. War das bei Ihnen auch so?
Kárpáti: Mag sein. Wir waren als Musikstudenten so mit unserer Materie beschäftigt, dass wir gar kein Interesse für Politik hatten. Jedenfalls nicht vordergründig. Üben, Literatur einstudieren, Konzerte besuchen, Vorlesungen. Daraus bestand mein Tag. Außerdem war der ungarische Kommunismus relativ moderat, verglichen mit anderen Ländern. Offener, lockerer irgendwie. Die Ungarn sind ein rebellisches Volk. Das war schon unter den Habsburgern so. Ich erhielt zum Beispiel ohne Probleme ein Stipendium für die Musikhochschule in Wien und habe dort ganz offiziell mein Konzertdiplom gemacht.
Schneider: Sie sind also kein politischer Flüchtling gewesen?
Kárpáti: Nein, überhaupt nicht. Ich konnte damals mit meiner ersten Frau und einem Kind einfach nicht von dem Beruf eines Klavierlehrers leben. Oder nur ganz schlecht. Wir mussten uns irgendwie durchschlagen. Als dann das zweite Kind kam, sagte ich: Wir müssen weg von hier. Es geht nicht mehr anders.
Schneider: Wie kamen Sie ausgerechnet nach Vorarlberg?
Kárpáti: Das ergab sich durch die Bekanntschaft mit dem bedeutenden Violinkünstler Albert Kocsic, einem Landsmann, der in Vorarlberg konzertierte und im mittleren Rheintal ein Kammerorchester aufgebaut hat. Er bot mir an, in Vorarlberg zu arbeiten.
Schneider: Sie haben eine ganz neue Klavierpädagogik mit nach Vorarlberg gebracht. Die Folge war, dass großartige Pianisten heranwuchsen. Was ist Ihr Geheimnis?
Kárpáti: Das kann ich selbst nicht beantworten. Ich habe aber immer versucht, den Charakter, die Seele und die Gestaltung eines Klavierstücks zu vermitteln. Schon bei den kleinsten Schülern. Ich war ein strenger Lehrer, wollte an die Grenzen einer Begabung gelangen. Aber nie drüber hinaus.
Schneider: Seit über vierzig Jahren leben Sie jetzt in Vorarlberg. Sind Sie hier angekommen oder haben Sie noch Heimweh nach Ungarn?
Kárpáti: Ich liebe Ungarn. Alles, was ich gelernt habe, verdanke ich diesem Land. Ich fahre noch regelmäßig nach Budapest, weil dort mein Vater lebt, der jetzt 95 Jahre alt ist. Aber es hat sich vieles in diesem Land leider zum Schlechten gewandelt. Dann kehre ich immer wieder so gern nach Vorarlberg zurück, weil es meine zweite Heimat geworden ist.
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