Neues vom Dauerzustand

Deichkind: Hymnen zur Wohlstandsverwahrlosung

Musik
16.02.2023 09:00

Nur drei Jahre nach ihrem letzten Album berichten die Hamburger Elektro-Punk-Rapper Deichkind „Neues vom Dauerzustand“. Mit viel Kreativität, Selbstironie und einer kräftigen Portion Herzblut trotzt man den Problemen der Zeit - ohne sich dabei darüber hinwegzusetzen.

Hört ihr die Signale? Die Saufsignale? Der waidwund zur Schau gestellte Hedonismus auf dem 2008er-Album „Arbeit nervt“ zieht sich seit 25 Jahren durch das Schaffen der Hamburger Anarchisten Deichkind, doch nervt Arbeit wirklich noch, wenn sie in Folge einer Pandemie gar nicht mehr da ist? Und lassen sich die First-World-Probleme der beiden Stammmitglieder Kryptik Joe und Porky überhaupt noch adäquat in Texte verpacken, wenn der Planet von Erdbeben, brennenden Hitzewellen, Hurricanes und Sturmfluten heimgesucht wird? Wenn die Gletscher schmelzen und die Rechtspopulisten mit Lautstärke, aber ohne Lösungsansätze auf Bauernfängerei gehen? Wenn ein feiger Angriffskrieg die fragile Weltpolitik erschüttert? La Perla, drittes Bandmitglied und zuständig für alles Visuelle, fand auf die gestellten Fragen schnell eine Antwort. „Wir hatten das Gefühl, dass wir nicht eins zu eins so weitermachen können wie bisher. Unsere Gespräche drehten sich dann ziemlich schnell um die Frage, welche Inhalte wir mit diesem Album in die Gesellschaft tragen wollten.“

Keine Spur von Verbitterung
So verschanzte sich das Trio ab Herbst 2020, um an einer Art „Deichkind-4.0“-Version zu schrauben. Sprich: die bekannten Stärken und althergebrachte Traditionen in typisch dadaistischer Band-Manier weiterspinnen, sich aber auch einmal aus dem mitteleuropäischen Wohlstandskokon zu quälen und das große Ganze ins Blickfeld zu nehmen. Was dem hedonistisch veranlagten Kollektiv auf dem noch immer kurvenreichen und spannenden Weg in die Populärkultur-Annalen schon immer mit beneidenswerter Leichtigkeit gelang, ist das völlige Hintanstellen von Zynismus. Auch wenn die einzelnen Bandmitglieder als stramme Mittvierziger mit grau melierten Häuptern und Bärten mit Vollkaracho dem von ihnen hauptkritisierten Typus Mensch entgegen altern, klingt auch am achten Studioalbum keine Spur von Verbitterung oder beleidigter Hilflosigkeit durch. Deichkind haben sich und ihre Ausrichtung über die Jahre musikalisch und textlich so präzisiert, dass man auch in der scheinbar ständig hakenschlagenden Projizierung ihrer Emotionen und Gefühle stets einen roten Faden zur direkten Gesellschaftskritik findet.

Als Deichkind vergangenen Herbst die erste Single-Auskoppelung „In der Natur“ auf die Online-Plattformen luden, war das Fragezeichen selbst bei treuen Fans pechschwarz eingedickt. Ein Jodler als Einstieg, dazu ein smoother, fast schon Fahrstuhlmusik-artiger Spannungsaufbau und die bissige Kritik an den im weiten Feld der ländlichen Prärie ums schiere Überleben kämpfenden Stadt-Bobo geriet so eklektisch und schwer fassbar, wie man es sich nur bei Deichkind erlauben kann. Der Jack-Wolfskin-tragende Innenstadt-Krieger wird dabei nicht mit dem Zeigefinger wedelnd auf die Schaufel genommen, schließlich verarschen sich die urbanen Musiker damit auch immer selbst. Selbstironie, Offenheit und Lernbereitschaft halten jung und vital, das gilt für Deichkind im Mikro-, wie auch im Makrokosmos. Jede Textzeile, jede feinsinnige Spitze trifft im Endeffekt die Musiker selbst. Nur dass es in „Neues vom Dauerzustand“ zuweilen ernster und weniger klamaukig erklingt, als man es bei den famosen Vorgängern „Niveau weshalb warum“ (2015) und „Wer sagt denn das?“ (2019) gewohnt war.

Überzeichnung vs. Realität
In Songs wie „Fete verpennt“, dem herausragenden „Kids in meinem Alter“ oder „Merkste selber“ stellen sie der blockierenden und veränderungsunwilligen Generation Boomer kein gutes Zeugnis aus und texten - mithilfe des bereits von „Leider geil“ bekannten Sprachpapstes Gereon Klug - derart bissig und wohlstandsverwahrlost, dass das Hören und Einordnen Erregungen auf mehreren Ebenen weckt. Man fühlt sich gleichermaßen verstanden wie amüsiert, entlarvt wie entrückt. Immer wandeln die Norddeutschen zwischen grellbunter Überzeichnung und ernüchternder Realitätsanalyse. Was einem beim Genuss von Songs wie „Delle am Helm“ oder „Nummer Sicher“ einmal mehr gewahr wird, ist die Tatsache, dass die Satire die Realität längst eingeholt hat und unsere Gesellschaft in einem Nebel der Absurdität wabert. Der Clou: man kann sich aus allen geografischen Lagen damit identifizieren. Beispiel Österreich? Eine Gemengelage aus „Der Bergdoktor“, „The Sound Of Music“ und „Idiocracy“, von Deichkind in Wort und Ton gegossen.

Rein musikalisch muss man keine Angst haben, dass die Band trotz der erweiterten Wahrnehmungsperspektive von ihren Stärken abgerückt wäre. Die ballernden Electro-Beats und das anarchische Gehabe durchziehen die 15 zumeist gelungenen Songs. Dass sich die eine oder andere Idee ein bisschen in der Redundanz der eigenen Vergangenheit verliert, ist angesichts der Hit-Dichte und des authentischen Spaßes an der Sache verschmerzbar. So lachen sich Kryptik Joe und Porky in den letzten Zeilen des wegweisenden „Kids in meinem Alter“ kaputt. Eine amüsante kleine Imperfektion, die man in vollem Bewusstsein und mit Freude am fertigen Produkt gelassen hat. Wie gewohnt tingelten Deichkind zudem durch ganz Deutschland, um mit Freunden und Wegbegleitern zu arbeiten. Popstar Clueso, Rapper Dexter, die frisch zurückgetretenen Hamburger Stadtkompagnons Fettes Brot - nur ein kleiner Auszug der unterstützenden Schar an Kreativköpfen.

Geduld ist gefragt
Gerade nach den Lockdowns während der Pandemie war es dem Stamm-Trio umso wichtiger, frische Luft zu atmen und sich so gut wie möglich von externen Einflüssen bereichern zu lassen. Dass nicht jede einzelne ironisch-humoristische Kritik voll ins Schwarze trifft, ist anhand von 15 Songkapiteln wenig verwunderlich. Etwa das musikalisch offensiv ausgerichtete „Wutboy“ gegen alle Schwurbler, Klimaleugner und Traditionalisten. Hier ist der langsam aus dem alltäglichen empfindende Corona-Touch etwas zu sehr ins gegenwärtige Zentrum gerückt. „Neues vom Dauerzustand“ braucht den einen oder anderen Durchlauf mehr, um sich voll zu entfalten. Durch den breitgefächerten Ideenreichtum und der inhaltlichen Beimengung globaler Brandherde braucht man einen Wimpernschlag mehr, um die dekadente Ungezwungenheit der Band zu erkennen. Sobald man diesen Zustand erreicht hat, giert man unmittelbar nach mehr. Zum Glück nahen die Konzerte.

Tourstart in Wien
Deichkind starten ihre „Neues vom Dauerzustand“-Sommertour am 21. Juni (passend zum Sommerbeginn) in der Wiener Stadthalle. Auf alle Hits, die neuen Songs und ein brandneues Showkonzept darf man sich freuen - unter www.oeticket.com gibt es Karten und alle weiteren Infos zum dadaistischen Konzerthighlight des Jahres.

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