Vor mehr als einem Jahr hat Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt und damit unbeschreibliches Leid über die Bevölkerung gebracht. Aber nicht nur Menschenleben, auch Kulturschätze werden dabei ausgelöscht. Es gehe um gezielte Vernichtung, um die ukrainische Identität auszuradieren, betont die ukrainische Historikerin Viktoria Soloschenko im Gespräch mit krone.at.
In dem Dorf Skoworodyniwka im Umland von Charkiw gibt es nicht viel. Ganzer Stolz des 500-Einwohner-Ortes ist das Gedächtnismuseum für den ukrainischen Philosophen Grigorij Skoworoda, der hier geboren wurde, sein 300. Geburtstag sollte vergangenes Jahr festlich begangen werden. Stattdessen schlug am Abend des 6. Mai 2022 eine russische Rakete in das Museum ein, das Haus aus dem 17. Jahrhundert brannte aus, nur die Wände blieben stehen.
„Das Museum wurde genau wegen des Jubiläums angegriffen. Das war kein Zufall“, sagt Historikerin Soloschenko gegenüber krone.at. Sie forscht zu Kulturgütern, die im Zweiten Weltkrieg verschleppt oder vernichtet wurden. „Mit Anfang des Krieges habe ich auch die aktuellen Vorgänge in den Fokus meiner Forschung genommen. Denn jetzt passiert die Geschichte vor meinen Augen in meinem Land“, erklärt sie.
Hunderte Angriffe sind genau dokumentiert
Die Wissenschaftlerin, die an der Nationalen Akademie der Wissenschaft der Ukraine tätig ist, spricht von einem „Megaschaden“ und „enormen Verlusten“ für die ukrainische Kultur. Für Viktoria Soloschenko ist klar: Die Angriffe sind gezielt. Die Faktenlage dazu ist überwältigend. Hunderte solcher Attacken von russischen Truppen auf Kulturgüter hat das ukrainische Kulturministerium seit Invasionsbeginn dokumentiert und Bilder, Karten und Informationen dazu auf einer Website zugänglich gemacht.
„Russen vernichten alles, was mit der ukrainischen Identität, Geschichte und mit der ukrainischen Sprache zu tun hat“, erklärt die Historikerin. Anfang März wurde die Nationale Wissenschaftliche Korolenko-Bibliothek in Charkiw - eine der größten in der Ukraine und in Europa - von den Besatzern angegriffen. Dabei barsten die Fenster, das Hauptgebäude und zwei Buchdepots wurden beschädigt. Die Landesbibliothek von Tschernihiw, die Angriffe der Bolschewiken im Jahr 1917 und den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte, wurde ebenfalls von russischen Truppen zerstört. Die Invasoren warfen eine 500-Kilogramm-Sprengbombe in den Hof der Bibliothek. Ausgelöscht wurde auch das Geheimdienstarchiv des Gebiets Tschernihiw. Dort gab es Archivalien, die Repressalien des Sowjetregimes gegen die Ukraine schilderten.
„Sie verbrennen auch Kinderbücher“
Soloschenko sieht Parallelen zum Zweiten Weltkrieg und den Aktionen der deutschen Wehrmacht. „Es gab bestimmte Gruppen, die Bücher und Archivalien aussortiert, abtransportiert und vernichtet haben - auch hebräische und jüdische Literatur.“ Auch in diesem Krieg würden ukrainische Bücher in Bibliotheken und Archivalien in Archiven vernichtet. „Sie verbrennen diese Bücher. Auch Kinderbücher, damit wir unsere Kinder nicht in der ukrainischen Sprache erziehen können“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Sie betont, dass sich trotz der Jahrhunderte unter russischer Dominanz eine starke ukrainische Identität bewahren konnte: „Wir haben unsere Sprache, Literatur und Kultur bis heute weiterentwickelt, sogar während des Krieges.“ Die Identität drückt sich auch in der Sorge für das Kulturgut aus. Gleich zu Beginn des russischen Überfalls traf eine Rakete das Geschichts- und Landeskundemuseum in Iwankiw nördlich von Kiew. Aus dem brennenden Gebäude konnten Museumswächter und Anrainer in der Nacht fast alle Werke der berühmten ukrainischen Malerin Maria Prymanchenko, farbenprächtige Gemälde von fantastischen Tieren, retten. Die Enkelin von Prymanchenko sammelt nun Geld, um den Wiederaufbau des Museums zu finanzieren.
Bei Büchern werde alles vernichtet, was auf Ukrainisch gedruckt wird, bei Kunstgegenständen sei das anders, erklärt Soloschenko. „Entweder werden Museen mit Bomben und Raketen völlig zerstört, oder es werden bestimmte Sachen ausgesucht, gestohlen und nach Russland oder in die besetzten Territorien verschleppt“, umreißt sie die Praxis der Truppen. Die Wissenschaftlerin geht der Frage nach, warum bestimmte Objekte verschleppt wurden: Weil sie materiell wertvoll sind? Oder weil sie eine wichtige Rolle für die ukrainische Nation spielen?
Antiker Goldschmuck verschleppt
Geraubt und verschleppt wurde jedenfalls in rauen Mengen. Aus dem Kuindschi-Museum in Mariupol, das durch Bomben völlig zerstört wurde, verschwanden viele Exponate, darunter Gemälde von Iwan K. Aiwasowski, einem auf der Krim geborenen Maler armenischer Abstammung, der aber als russischer Künstler gilt. Auch viel ältere Kunstgegenstände fielen den Invasoren in die Hände. Aus dem Landeskundemuseum in Melitopol wurde skythischer Goldschmuck abtransportiert, unklar ist, wohin. Es handelt sich um mehr als 1800 wertvolle antike Ausstellungsgegenstände. „Man weiß nicht, in welchem Zustand die Gegenstände sind, ob sie verschollen sind oder zerstört wurden“, erklärt Soloschenko.
Vergangenen November befreiten ukrainische Truppen die Stadt Cherson im Süden des Landes, nach dem Abzug der Russen wurde offenbar, wie massiv dort geplündert wurde. Aus dem Kunstmuseum Cherson wurden rund 15.000 Gemälde und vier Lkw voller jahrhundertealter Ikonen nach Simferopol auf der besetzten Krim transportiert.
Illegaler Handel und Schmuggel befürchtet
Es wird befürchtet, dass mit den gestohlenen Objekten illegal Handel betrieben wird. Der Internationale Museumsrat (ICOM) hat daher eine Rote Liste der gefährdeten Kulturgüter zusammengestellt, unterstützt von ukrainischen Experten. Neben Ikonen, Malerei und Schmuck umfasst die Liste auch Manuskripte, Kostüme und Kunsthandwerk. Sie soll die Identifizierung von geplünderten Kulturgütern aus der Ukraine erleichtern, „wenn sie in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren zu zirkulieren beginnen“, erklärte der Museumsrat.
Für die russische Regierung gibt es nichts Heiliges.
Historikerin Viktoria Soloschenko
Bis Anfang 2023 wurden durch russische Angriffe in der Ukraine mehr als 400 Bibliotheken, Dutzende Museen und Galerien, 22 Theater und Philharmonien und etwa 170 Denkmäler von nationaler, regionaler oder lokaler Bedeutung zerstört oder beschädigt. „Ich denke, hier kann man schon von einem Vernichtungsfeldzug gegen die ukrainische Kultur sprechen“, sagt Historikerin Soloschenko. So seien sogar Museen gezielt angegriffen worden, die in der Nähe von Kernkraftwerken standen, etwa dem AKW Saporischschja oder der Reaktorruine Tschernobyl.
Mehr als 200 Gotteshäuser zerstört
Durch seinen Feldzug erreicht Russlands Präsident Wladimir Putin aber das Gegenteil: Die eigene Identität der Ukrainer wird immer mehr betont, auch im Donbass. „Der Westen und Osten der Ukraine waren sich noch nie so nah wie jetzt“, erklärt Soloschenko. Die Unterschiede zu Russland werden hervorgestrichen: „Wir sind verschieden, nur die Religion eint uns“, sagt sie. Moskautreue Truppen zerstörten aber auch Kirchen. Mehr als 200 Kirchen, Synagogen und Moscheen wurden seit Kriegsbeginn zerstört, von vielen sind nur die Wände geblieben, schildert die ukrainische Wissenschaftlerin: „Für die russische Regierung gibt es nichts Heiliges.“
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