Seit fast 40 Jahren erobert das Death-Metal-Kollektiv Obituary von Florida aus die Welt mit wuchtigen Drums, tiefen Growls und schneidenden Gitarrenriffs. Sänger John und Drummer Donald Tardy führen das Flaggschiff, das zu den dienstältesten Bands der Genre-Historie zählt, mit unaufhaltsamer Leidenschaft voran. Mit dem aktuellen Album „Dying Of Everything“ kamen sie in die Top-20 der heimischen Albumcharts. Am Rande ihres Aufritts unlängst im Wiener Gasometer sprachen wir über große Brüder, unterstützende Eltern und eine Zeit, als das BMX-Rad so wichtig war wie heute ein Smartphone.
„Krone“: John, Donald - es gibt eine klare Verbindung zwischen eurem Debütalbum „Slowly We Rot“ aus 1989 und dem brandneuen Werk „Dying Of Everything“. In beiden Fällen scheint die Welt elendiglich zugrunde zu gehen. Es hat sich also über die letzten 35 Jahre nichts verbessert …
Donald Tardy: Album- und Songtitel sind das Letzte, das uns einfällt. Wir setzen auf die Riffs, die Drums und die Songs an sich. Erst wenn alles steht und wir dann noch einmal über die Texte gehen, überlegen wir uns Titel dafür.
John Tardy: Mir ist es schon mehrmals passiert, dass ich einem Song fast zwei Titel gegeben hätte. (lacht)
Donald: Wir denken wirklich nicht viel darüber nach, aber es kann sich sowieso jeder selbst seinen Reim darauf machen. Jeder soll alles so interpretieren, wie er es für richtig hält. Wir können nicht so gut über Hündchen und Rosenknospen schreiben. Wobei - vielleicht sollten wir das einfach tun.
1997 habt ihr euch einmal für ein paar Jahre von der Bildfläche verabschiedet, weil ihr voneinander eine Pause gebraucht habt und des Tourens müde ward. Momentan scheint ihr mehr denn je unterwegs zu sein. Wie kehrte die Motivation wieder zurück?
Donald: Wir wollten eigentlich nie so lange auf Tauchstation gehen. Als wir die Band 1984 unter einem anderen Namen starteten, waren wir noch Kinder. Seitdem leben wir das Leben. Also aus dem Rucksack, immer unterwegs und ohne große Verschnaufpause. Wir haben einfach alle gemerkt, dass es so nicht mehr weitergehen kann.
John: Vor „Frozen Of Time“ (2005) hatten wir eine große Pause, und dann kam natürlich die erzwungene durch Corona. Wir sind zu Hause viel länger auf unseren Ärschen herumgesessen als wir je gedacht hätten. Es hätte aber auch keinen Sinn gemacht neue Musik zu veröffentlichen und dann nicht damit auf Tour gehen zu können. Die Pause war aber ein Segen und mittlerweile brauchen wir sie auch immer öfter.
Als etwa 15-Jähriger in Florida denkt man wohl auch nicht daran, dass man mit anfangs Thrash Metal und später Death Metal einmal seinen Lebensunterhalt wird bestreiten können …
Donald: Nachdem wir die Organe unserer Lichttechniker verkaufen, geht es sich gerade so aus. (lacht) Was hätten wir sonst machen sollen? Was wir richtig gut können: Obituary sein. Was war nicht können oder nur halbwegs normal: alles andere. Wir haben keine Pensionspläne, außer der Schnitter holt uns irgendwann ab. Wir sind sehr glücklich und dankbar darüber, dass wir diese Band unsere Karriere nennen können und wissen, dass es nicht selbstverständlich ist. Harte Arbeit ist dabei essenziell. Auf Tour zu sein, gute Musik zu schreiben und die Fans gut zu behandeln.
Fühlt es sich heute trotzdem ein bisschen mehr wie ein Job an, nachdem nun finanzielle Verpflichtungen mit einhergehen und es nicht mehr nur bloßer Spaß ist?
John: Ich sage immer, dass wir 23 Stunden am Tag arbeiten und auf der Bühne eine Stunde pro Tag Freizeit haben. (lacht)
Donald: Ich liebe Bier, aber bevor ich von der Bühne gehe, lasse ich die Finger davon. Als Drummer wäre das unmöglich, dafür muss ich auf zu viel achten und brauche zu viel Kraft. Aber wir sind natürlich ein Teil des Rock’n’Roll-Zirkus. Manche schaffen es, in dieser Industrie zu arbeiten und komplett nüchtern zu bleiben - ich nicht. Es muss aber jeden Abend Leistung gebracht werden, dieser Verantwortung bin ich mir natürlich voll bewusst. Dafür kracht es manchmal gleich nach der Show.
Alle amerikanischen Death-Metal-Größen, die sich in den späten 80er-Jahren formiert haben, sind immer noch unterwegs. Cannibal Corpse, Deicide, Morbid Angel, Malevolent Creation oder ihr selbst. Mehr oder weniger in Originalbesetzungen. Herrscht da noch immer ein ungezwungener Wettkampf, wer die besseren neuen Songs schreibt?
John: Die Jungs sind noch alle gut unterwegs. Sie machen nicht so gute Alben wie wir, aber ich habe großen Respekt. (lacht) Deicide-Sänger Glen Benton ist ein guter Freund von uns.
Donald: Schon in den frühen Jahren wurden wir nach Rivalitäten und Wettkämpfen befragt. Vielleicht liegt es daran, dass wir entspannte Florida-Guys sind, aber wir haben uns immer unterstützt, waren bei den anderen in der ersten Reihe und gut miteinander befreundet.
John: Ich war sogar froh darüber, in der ersten Reihe Bier zu trinken und nicht selbst singen zu müssen. (lacht)
Donald: Wir haben allen immer das Beste gewünscht. Ich weiß nicht, ob das in New York oder an der Westküste gleich ist, aber in der Florida-Szene war das immer so. Bis auf die Massacre-Typen. Mit denen war es immer mühsam. (lacht)
Warum gibt es eigentlich keine Tour der „Big 4“ des Death Metals, so wie es auch mit den „Big 4“ des Thrash Metal früher war? Eben Metallica, Slayer, Anthrax und Megadeth.
John: Mit Cannibal Corpse waren wir oft unterwegs. Glen von Deicide haben wir oft gefragt, aber er hat das immer abgelehnt. Wir treffen uns oft, um ein paar Biere zu kippen, aber gemeinsam auf Tour zu gehen, das haben wir bislang nicht geschafft. Ich denke, die Fans würden das sicher wollen.
1984 begann eure Laufbahn unter dem Banner Executioner. Da steckte das Genre Death Metal noch in den Babyschuhen und wurde gerade erst langsam geboren.
John: Kein Internet, keine Smartphones - nichts. Es war eine komplett andere Welt, die dunklen Zeiten. (lacht)
Donald: Ich war ein Sportler und hatte gar keine Ahnung, was Metal überhaupt ist, bis mein Bruder und unser Gitarrist Trevor Peres damit infiziert wurden. Wir haben uns daheim Bands wie Nasty Savage und Savatage angesehen, die uns das Licht gewiesen haben. Das waren großartige Konzerte und wir wollten genau das machen. Wir wuchsen mit Led Zeppelin und Black Sabbath auf und ich merkte, ich möchte Drummer werden und den Rock’n’Roll leben. Ohne die Vorbilder in der Region hätten wir damit aber wohl nie begonnen. Es gab zwar kein Internet, aber man konnte sich auf sein Rad schwingen und zu einer Metalshow fahren.
Ging es euch anfangs wirklich um die Musik, oder war einfach das Image cool? Oder die Freiheit, dass man sich gesellschaftlichen Konventionen entzieht und einfach Lärm macht?
Donald: Wir haben überhaupt nicht an Jobs gedacht und gingen alle noch zur Schule. Wir waren damals keine Erwachsenen und sind es noch heute nicht. (lacht)
John: Wir sind alle mit Lynyrd Skynyrd und Rockbands aufgewachsen, besuchten die lokalen Metalshows und waren begeistert davon. So einfach funktionierte das damals. Wir hatten kein Drumset und auch keine Gitarren. Trevor hat sich als erster eine Gitarre gekauft und das Drumset haben wir uns bei einem Freund ausgeliehen. So entstand unsere erste Band.
Donald: Venom, Hellhammer und Possessed waren dann die Bands, die unsere Schädel verdrehten und uns wissen ließen, wo wirklich hingehen möchten. Diese Art von extremen Klängen war genau das, was uns motiviert hat.
Ihr seid aber nicht die beiden einzigen Brüder in eurer Familie?
Donald: Wir haben noch eine ältere Schwester und einen älteren Bruder.
John: Die beiden sind deshalb gar nie in die Welt des Metal gerutscht. Sie hatten ihre eigenen Leben, wir waren dafür im genau richtigen Alter. Außerdem hatten sie mehr Talente. (lacht)
Donald: Unser ältester Bruder Greg ist der Grund, warum es Obituary überhaupt gibt. Er war ein so großer Fan von Musik und hatte die Platten von Led Zeppelin, Ted Nugent, Queen und Molly Hatchet daheim. Zudem haben wir bei ihm immer Marihuana gefunden. Er war damit unsere größte Inspiration. Auch unser Vater war ein großer Fan von Musik und Plattensammler. Greg war zwar ein Maniac, hat sich aber nie dafür interessiert, selbst ein Instrument in die Hand zu nehmen.
John: Wir leben natürlich ein ganz anderes Leben als unsere älteren Geschwister, aber das gilt ja für die meisten Menschen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich die Wege oft weit verstreuen.
Donald: Wir hatten richtig coole Eltern. Sie haben uns alles erlaubt, was uns Spaß machte. In erster Linie waren wir leidenschaftliche Sportler. Jede Art von Sport, die unseren Weg gekreuzt hat, haben wir gleich ausprobiert. Unsere Mutter hat uns zu jedem Spiel und zu jeder Übung gefahren. Selbst als wir mit der Musik begonnen haben, wollte sie uns nie in einen normalen Job drängen. Sie sah, dass wir fokussiert waren und das unbedingt tun wollten, also hat sie uns auch dabei unterstützt.
John: Stell dir vor, sie hätte uns sofort wieder zurück zur Schule geschickt. Nicht auszudenken. (lacht)
Was sind eure Interessen und Leidenschaften außerhalb von Obituary?
Donald: Wir sind ganz normale Menschen mit unterschiedlichen Interessen wie jeder andere auch. Wir lieben Sport über alles. Besonders Fisch und Football. Außerdem haben wir alle Kinder. Wir sind aus Florida. Alles, was du in der Sonne machen kannst, machen wir. Wir sind zudem große Fans von verschiedenen Sportteams. John hat die größte Freude dabei, sich ein Boot zu schnappen, um rauszufahren und zu fischen. Einfach ganz normale Sachen. Es hat sich so ergeben, dass die Musik zu unserem Job wurde.
John: Wobei es natürlich kein klassischer Job ist. Es könnte wesentlich schlimmer sein. (lacht) Das halten wir uns auch in den schlimmen Momenten vor Augen.
Donald: Wir gehen auf eine Bühne und spielen jeden Abend Heavy Metal. Was kann es Schöneres geben, als seiner Leidenschaft zu folgen und sie auch noch vor Menschen auszuüben, die das wirklich gerne hören wollen?
Fühlt ihr euch in eurer gegenwärtigen Lebenssituation wohler und ausgeglichener als in früheren Jahren?
Donald: Die Musik war bei uns vor allem anderen da. Bevor wir überhaupt wussten, was es bedeutet eine Freundin zu haben, waren wir der Musik bereits total verfallen. Wir sind heute nicht viel anders. Es fühlt sich nicht wie ein Job an, weil wir unglaublich viel Spaß daran haben.
2009 habt ihr zwei ein Album unter dem Namen Tardy Brothers veröffentlicht. Wird da jemals noch was nachkommen?
Donald: Obituary ist eine sehr erfolgreiche Band, aber es gibt sie auch auf Nachfrage. Wir haben immer wieder mal Zeit für Projekte dazwischen und haben schon vor, da noch was zu machen. Die Idee ist keinesfalls gestorben. Wir schreiben auch fleißig an neuen Songs. Das aktuelle Album läuft wirklich gut und wir reiten jetzt einmal auf der Welle und touren damit so viel wie nur möglich. Ein weiteres Bandalbum wird es nicht so bald geben.
Misst ihr euch bei neuen Alben mit den Großtaten eurer Vergangenheit oder könnt ihr euch diesem Druck entziehen?
Donald: Das Schöne an dieser Band ist, dass wir uns niemals in Drucksituationen versetzen lassen und auch nichts Großartiges erwarten. Wir sorgen uns nicht darum, wie das letzte Album klang, was die anderen Bands um uns herum machen oder wie ein Song auf der Bühne klang. Wann immer wir auf etwas Lust haben, machen wir es. Wir reden uns zusammen und legen los. Ganz ungezwungen. Drei von uns sind seit den frühesten Tagen zusammen, alles funktioniert blind. Wir stellen uns in den Proberaum, machen eine Dose kaltes Bier auf und riffen einfach drauflos. Da könnte die Welt neben uns untergehen, wir würden das in dem Moment nicht einmal bemerken. Entsteht aus einem Riff ein Song - hervorragend. Falls nicht, dann gibt es auch noch einen nächsten Tag. So leben wir und so tut es gut.
Diese fast schon buddhistische Einstellung hattet ihr aber sicher nicht immer. So etwas muss man auch lernen und beherzigen können.
Donald: Das ist richtig, es war nicht immer so. Die ersten paar Alben einzuspielen, war die pure Hölle. Da war nicht die Spur von Spaß. Die Techniker haben dich durch das Studiofenster beäugt, die Uhr schlug unerbittlich, weil jede Minute mehr gleich sehr viel Geld kostete. Wenn das rote Licht anging, musste man aufnehmen und am besten sollte alles beim ersten Take sitzen. Willkommen im Jahr 1988. (lacht)
John: Die Songs von früher zu spielen macht viel Spaß, aber wenn ich mir die frühen Alben ganz anhöre, ist das der reinste Horror. Dann kommen die ganzen schlimmen Gefühle von damals wieder hoch. Es ist so, wie wenn du das Kinderzimmer eines Jugendfreundes betrittst, und irgendwo noch Bilder von dir mit Zahnspange und Pickel aus der siebenten Klasse findest. So fühlt sich das nach betrachtet an. (lacht)
Ihr lebt fest in der Gegenwart und denkt an die Zukunft, aber die meisten Fans leben bei ihren Lieblingsbands in der Vergangenheit. Sie lieben zu einem Großteil die Alben, mit denen ihr furchtbare Erinnerungen verbindet.
John: Was will ich hören, wenn ich zu Slayer gehe? „Show No Mercy“, „Hell Awaits“, „Reign In Blood“ - ich kann das also gut verstehen. Deshalb spielen wir nur drei neue Songs pro Abend und stopfen sonst alles mit Klassikern voll.
Donald: Wir versuchen zumindest den richtigen Bogen zu schlagen. Aber 40 bis 60 Minuten sind wenig Zeit für eine mehr als 30-jährige Karriere. Irgendwo muss irgendjemand immer Abstriche machen ...
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