Wenn es darum geht, die Probleme und Verwerfungen Großbritanniens möglichst roh und ungefiltert aufs Parkett zu bringen, braucht es auch 2023 die Sleaford Mods. Ihr neues Album „UK Grim“ ist eine weitere Bestandsaufnahme, die kein gutes Licht auf das sinkende Empire wirft. Jason Williamson und Andrew Fearn sprachen mit uns über ihre neue Musik und die Wut auf das Establishment - im Juni spielen sie beim Lido Sounds in Linz.
Zahllose Streiks, Nullwachstum, die immensen Probleme nach der Brexit-Entscheidung, eine politische Pattstellung samt nicht enden wollender Querelen, eine galoppierende Inflation, Engpässe bei Lebensmittel und dann stirbt auch noch die Queen - das einst so mächtige Großbritannien ächzt nicht nur aktuell unter einer Vielzahl an Problemen, sondern entwickelt sich zunehmend zum größten Sorgenkind in ganz Europa. Mit Rishi Sunak gibt es derzeit nach Boris Johnson und Liz Truss schon den dritten Premierminister innerhalb von wenigen Monaten, doch Besserung ist weit und breit nicht in Sicht. Die konservativen Tories regieren das Empire seit Mai 2010 und haben das Land nachweislich an die Wand gefahren. Ob die konkurrierende Labour Party einen Umschwung schaffen würde, ist natürlich offen. Viel schlimmer könne es aber eh nicht mehr werden, meint Jason Williamson im „Krone“-Talk.
Dorn im Establishment-Fleisch
„Vielleicht macht sogar Sunak einen Unterschied, aber wichtig wäre, dass der Premierminister den Menschen zuhört und versucht, sie zu verstehen. Das Hauptproblem ist, dass keine Politik für die Bürger gemacht wird. Die Politiker labern immer nur denselben Bullshit und reißen dem einfachen Mann metaphorisch die Stimmbänder raus, damit er sich nicht zu Wort melden kann. Es gibt keine Stimme für das Volk.“ Williamson ist das Sprachrohr des Nottingham-Duos Sleaford Mods, das schon seit geraumer Zeit wie keine zweite Band als musikalischer Dorn im Fleisch des Establishments gilt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Seit 2009 arbeitet Williamson mit Produzent und DJ Andrew Fearn zusammen, seit 2012 veröffentlichen sie gemeinsam Alben und spätestens mit den drei letzten Outputs „English Tapas“ (2017), „Eton Alive“ (2019) und „Spare Ribs“ (2021) haben sich die beiden zu Rädelsführern einer unverblümten Protestkultur hochgespielt, die längst über die Grenzen der Insel hinausstrahlt.
Dem gewohnten Zwei-Jahres-Veröffentlichungsrhythmus gemäß erscheint dieser Tage mit „UK Grim“ die nächste Abrechnung mit dem Niedergang der Heimat auf Albumlänge. Für die gleichnamige Single arbeiteten die beiden mit dem britischen Collage-Künstler Cold War Steve (Christopher Spencer) zusammen, der ein wunderbares Video mit kritischen Querverbindungen zu Vladimir Putin, Liz Truss, David Cameron oder The Who-Frontmann Roger Daltrey zusammenstellte. „Manchmal wirkt die Lage wirklich hoffnungslos. Den Menschen geht es allgemein nicht gut und das ist wirklich schlimm.“ Williamson ist 52, Fearn 51 Jahre alt, doch beide sind durchzogen von einer Wut und Ohnmacht, die normalerweise nur den Adoleszenten gewährt ist. Diese Stimmungslage zu konservieren, scheint für die beiden Lads kein großes Problem zu sein. „Ich bin eigentlich die ganze Zeit sauer und manchmal denke ich mir sogar, ich bin nicht sauer genug“, analysiert Williamson die Lage wie immer mit einem sympathischen Augenzwinkern.
Songs von Neandertalern
Die Sleaford Mods feuern ihren Zorn aber nicht hasserfüllt und stromlinienförmig gegen die herrschenden Eliten, sondern mengen den spitzbissigen Texten und eingängigen Lo-Fi-Beats immer eine große Prise Humor bei. Nicht immer eckt man ganz oben an, denn auch der stinknormale Alltag Britanniens gibt den beiden mehr Stoff, als sie jemals in einem Leben in Musik umsetzen könnten. So spielt „Tory Kong“ auf das absurde Star-Gehabe von Musikern im Alltag an, „D.I. Why“ nimmt all jene Kolleginnen auf die Schaufel, die sich als selbstgerecht und selbstgefällig gerieren. „So Trendy“ macht sich über alle jene lustig, die sich wie Modegecks kleiden und dann im örtlichen Pub beim Pint einen auf Working Class machen wollen. „Solche Songs entstehen ganz grundlos, ohne Plan. Sie sind dafür sehr kindisch und unmittelbar. Wir sind manchmal einfach nur alte Typen mit der Wut von zornigen Kindern“, lacht der Frontmann, „aber wie du weißt, stammen wir alle vom Neandertaler ab.“
Williamson und Fearn erkennen nicht nur in den oberen Etagen nachhaltige Verwerfungen, denn die furchtbare Politik hat sich längst wie ein Krebsgeschwür auf die Gesellschaft übertragen. „Leute formieren sich heute online in Grüppchen und glauben, das einzig geltende Recht für sich gepachtet zu haben. Die Menschen kriegen das von ganz oben vorgezeigt, weil das die widerliche Art ist, Politik zu machen. Das wiederum öffnet den Verschwörungstheoretikern Tür und Tor, denn diese Menschen suchen wie besessen nach der einen geglaubten Wahrheit. Ein furchtbares Chaos, das schlimmer und schlimmer wird.“ Doch was wäre ein Lösungsansatz? Das Land metaphorisch in Brand zu stecken oder wie weiland die Sex Pistols „Anarchy In The U.K.“ auszurufen? „Nein, das ist doch veraltet“, grätscht Williamson ins Wort, „ich weiß es leider selbst nicht. Die Menschen sollten allgemein ein bisschen mehr Vernunft und Intelligenz beweisen. Das würde in allen Bereichen sehr stark weiterhelfen.“
Ein Ventil für die Wut
Williamson nahm sich nie ein Blatt vor den Mund und hat auch mit steigender Berühmtheit nicht damit aufgehört, anzuecken. Immer wieder beteuert der Familienvater in aktuellen Interviews, dass er nicht mehr so sehr auf Angriff gehen möchte, doch ganz kann er nicht aus seiner Haut heraus. Ein angenehmer Gegenpol zu glattgebügelten Casting-Show-Puppen und dauerlächelnden TikTok-Popstars. „Ich habe heute eine kontrolliertere Form von Wut gefunden. Manchmal wirkt sie um einiges intelligenter als in jüngeren Jahren, manchmal aber auch dümmer und gedankenloser.“ Über die Jahre haben sich die Sleaford Mods ein stattliches Publikum weit über Großbritannien hinaus erspielt, die sich in den rohen und ungekünstelten Texten wiederfinden. „Ich glaube, unsere Songs können Menschen helfen, die sich ähnliches über den Zustand der Welt denken wie wir, aber keine Chance haben, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Wir saugen die Sorgen, die Ängste und die Wut der Menschen auf und geben diesen Emotionen ein Ventil.“
Wo sich Politiker, Wirtschaftstreibende und Prominente hinter Halbwahrheiten und Plattitüden verstecken, legen Sleaford Mods nicht nur den Finger auf die Wunde, sondern streuen sogar noch kräftig Salz in ebenjene, um dann mit der ganzen Hand darin herumzuwühlen. Trotz all der Negativität und Melancholie finden die beiden Freunde und Geschäftspartner zu jeder Bestandsaufnahme eine kräftige Dosis Humor und Positivismus. „,UK Grim‘ zeigt vielleicht ganz gut auf, in welcher Scheiße wir gerade stecken, aber es gibt den Leuten auch die Möglichkeit, darüber lachen zu können“, so Instrumentalist Fearn, der sich als Sprachrohr im Interview vornehm zurückhält, „am Ende des Tages schreiben wir Songs und Songs dienen zur Unterhaltung. Menschen wollen gerne unterhalten werden.“ Unter einem YouTube-Interview mit Williamson kommentierte ein Fan, die Sleaford Mods wären „die Stimme der Vernunft in einer Welt, die völlig aus den Fugen geraten ist“. Treffender kann man auch „UK Grim“ nicht beschreiben.
Live beim Lido Sounds
Die Sleaford Mods sind diesen Juni Teil des „Lido Sounds“ am Linzer Donauufer Urfahrmarkt. Unter www.oeticket.com gibt es weitere Infos und Karten für das Konzerthighlight. Auf einen Club-Termin dann im Herbst darf man zumindest noch hoffen.
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