Atifete Doqai

„Man will doch nicht weg von daheim“

Vorarlberg
12.03.2023 17:25

Atifete Doqai ist vor dem Krieg im Kosovo nach Vorarlberg geflüchtet. Auch wenn sie jetzt ein glückliches Leben in Österreich führt, ein Teil ihrer Seele ist immer noch in der alten Heimat. Ihre Wohnung in Pristina wird wohl immer ein Stück ihres Herzens bleiben.

Egal, auf welcher Seite man steht, im Krieg wird jeder am anderen schuldig. Das schrieb der große russische Erzähler Leo Tolstoi vor über hundert Jahren. Es wühlt Atifete Doqai immer noch auf, wenn sie von jenen Geschehnissen berichtet, die sich Ende der 90er-Jahre in ihrer geliebten Stadt Pristina zugetragen haben. Während des Kosovo-Kriegs, im Mai 1999, kam sie als junge Frau und Flüchtling hierher nach Vorarlberg, wo sie zuerst in der ehemaligen Galina-Kaserne Unterkunft fand. Gemeinsam mit ihrer betagten Mutter, dem kriegsversehrten Bruder, der seit jener Zeit an den Rollstuhl gefesselt ist, und ihrem Vater. „Zwei Tage nachdem wir in Vorarlberg angekommen waren, wurde mein Papa in Feldkirch untersucht. Dort hat man einen Gehirntumor festgestellt.“ Bei diesen Worten bricht ihr die Stimme, und Tränen schießen ihr in die Augen. Wir machen eine Pause. Atifete Doqai sammelt sich, reißt sich zusammen und erzählt schonungslos von dem, was sie erlebt hat.

Robert Schneider: Wo aus dem Kosovo genau kommen Sie her?
Atifete Doqai: Ich bin in einem kleinen Dorf in der Nähe von Peja geboren. Das ist im Westen des Kosovo.

Sie sind Kosovo-Albanerin. Und gläubig?
Ja, ich bin Muslima.

Was haben Ihre Eltern beruflich gearbeitet?
Mein Papa war bei einer Elektrofirma angestellt. Er musste jeden Tag so 70 Kilometer weit zur Arbeit fahren. Die Zugverbindungen waren damals unglaublich schlecht. Mitten in der Nacht kam er heim. Deshalb hat er beschlossen, mit der ganzen Familie nach Pristina zu ziehen. Die Mama war zuhause und für uns fünf Kinder da.

Ihre Jugend war glücklich?
Ja. Sehr. Ich ging wie alle Kinder zur Volksschule, dann in die Hauptschule. Danach habe ich Kinderkrankenschwester gelernt. Aber zu der Zeit brachen schon die Konflikte zwischen Kosovaren und Serben aus. Wir sollten mit einer Unterschrift auf unsere Muttersprache verzichten und nur noch Serbokroatisch sprechen. Mein Vater hat das nicht akzeptiert und verlor seine Arbeit. Die Albaner haben dann in Privathäusern versteckte Schulen organisiert. Ich konnte meinen Beruf auch nur privat erlernen.

Ahnten Sie damals schon, dass es Krieg geben wird?
Nein. Wir dachten, dass der Konflikt nicht lange dauern wird, dass es schon zu einer friedlichen Lösung kommt, zumal wir Albaner ja in der überwiegenden Mehrheit waren. Aber diese Einschätzung stellte sich als gewaltiger Irrtum heraus.

Sie sind dann mit Ihrer Familie nach Mazedonien geflohen.
Ja, 1999, als die NATO begonnen hat, strategische Ziele in Serbien zu bombardieren und es zu schrecklichen Massakern unter der albanischen Bevölkerung kam. Wir lebten fast eine Woche lang im Auto, trauten uns nicht einmal auszusteigen, weil wir andauernd Angst vor Heckenschützen hatten. Es ist merkwürdig. Ich lebe jetzt schon 23 Jahre in Vorarlberg, aber immer, wenn ich einen Polizisten sehe oder jemanden vom Militär, bekomme ich eine panische Angst.

Wie ging es dann weiter?
Über Salzburg, glaube ich, dann über ein Zeltlager in Hall in Tirol, kam ich mit meinen Eltern und meinem gehandicapten Bruder nach Vorarlberg.

Wer hat das organisiert?
Das war die Caritas. Als wir von Hall mit dem Bus nach Vorarlberg gefahren sind, sagte der Dolmetscher im Arlberg-Tunnel, dass wir uns nicht fürchten sollen. Er sagte es deshalb, weil viele Menschen plötzlich Angst bekamen vor der Dunkelheit und nicht wussten, ob das wirklich der Weg in die Freiheit ist. Das vergesse ich nie mehr. Schließlich landeten wir in der Galina-Kaserne, was für uns am Anfang schrecklich war. Die Bundesheermänner, die da zu unserem Schutz herumstanden, konnten wir nicht deuten. Dann kamen auch hin und wieder Leute, die zu uns herüber gerufen haben.

Was haben die gerufen?
„Ausländer raus!“ und so.

Wie? Vorarlberger haben Sie beschimpft?
Ja, Vorarlberger. Wir dachten zuerst: Gott im Himmel, wo sind wir da gelandet? Jedenfalls lebten wir dort ca. einen Monat. Alle zusammen in einem Zimmer. Danach weitere drei bis vier Monate in einem Flüchtlingsheim in Gisingen. Bis mein Bruder einen Reha-Platz bekam.

Dazu kam vermutlich noch das Problem mit der Sprache.
Genau. Zwar hatten wir Dolmetscher, aber ich habe mich bemüht, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Damals war es ja noch so, dass man ohne Aufenthaltsbewilligung nicht arbeiten durfte. Wer aber keine Arbeit hatte, bekam keine Aufenthaltsbewilligung. Ein Teufelskreis. Dann hatte ich aber großes Glück, dass ich als Putzhilfe bei einer Familie unterkam.

Sie mussten ja für einen todkranken Vater, eine alte Mutter und einen kriegsversehrten Bruder das Geld verdienen.
Das war für mich selbstverständlich. Viele meiner Bekannten sind nach dem Krieg wieder in den Kosovo zurückgekehrt, weil sie sagten, die Vorarlberger seien kalte, abweisende Menschen. Das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Dort, wo ich arbeiten durfte, fand ich so etwas wie eine zweite Familie. Das hat mir sehr viel Kraft gegeben.

Sie haben sich im Lauf der Jahre bis zur stellvertretenden Leiterin eines großen Supermarkts gemausert. Wollen Sie in der Pension wieder nach Pristina zurückkehren?
Ich glaube nicht. Aber ich fahre jeden zweiten Monat dorthin. Ein oder zwei Tage. Dann komme ich wieder zurück.

Jeden zweiten Monat?
Ja. Weil es mir fehlt.

Was genau fehlt Ihnen?
Die Wohnung in Pristina. Die gibt es noch. Die Seele. Ein Stück meines Herzens. Manchmal reicht auch nur eine Stunde. Einfach nur die Luft einatmen. Dann geht es wieder.

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