Mehr als zehn Jahre sind seit Lana Del Reys großem Durchbruch vergangen. Fans und Anhänger feiern sie als Göttin, rigorose Kritiker stoßen sich an einem veralteten Frauenbild und gleichförmiger „Sadness-Sounds“. Auf ihrem neunten Studioalbum umarmt sie nicht mehr Kalifornien, sondern ihre Familie und Geliebten. Ein mutiger Schritt, der kompositorisch voll aufgeht.
In einer Welt der medialen Überinszenierung war das Wesen von Lana Del Rey schon immer viel zu geerdet, um sich darin wohlzufühlen. Seit ihrem großen Durchbruch „Video Games“ vor mittlerweile elf Jahren, gehörte die heute 37-Jährige zu den am meisten kritisierten und streng beäugten Künstlerinnen des Musikbusiness. Manchen sind ihre Songs zu schwülstig, andere stoßen sich am scheinbar fehlenden Feminismus, der mitunter dadurch befeuert wurde, dass sie einst zugab, sich anfangs für ihre Karriere hochgeschlafen zu haben. Doch bei all den Querschüssen und Guillotine-artigen Vorurteilen blickten nur die wenigsten hinter die Fassade dieser so einzigartigen Künstlerin, deren Arbeitsethos beispiellos und deren Kompositionsqualität herausragend ist. Obwohl aus New York City kommend, steht Lana wie keine zweite Künstlerin für die psychedelisch-verträumten Weiten von Los Angeles und der kalifornischen Westküste, wo die Freiheit noch ungezügelt zu sein scheint.
Inspirierend im Windschatten
In genau dieser Art und Weise galoppiert die Künstlerin wie ein wildgewordener Mustang oder eine unhaltbare Stampede durch die Musikwelt. Lana Del Rey verbindet fragile Zerbrechlichkeit mit unzähmbarem Ausbruch. Sie evoziert die Grandezza des Hollywoods der 50er- und 60er-Jahre und vermischt diese heute nicht mehr als chic geltende Hochzeit von Glanz und Glamour mit den Niederungen der Social-Media-Moderne. Von den sozialen Medien und dem anhaltenden Gepolter in diversen Filterblasen hatte Lana vor zwei Jahren die Nase voll, weswegen sie ihr öffentliches Profil schloss. Die Mutter des sogenannten Altpop bekam den stinkenden Verbalmüll der intoleranten Gesellschaft entgegengeschleudert, während in ihrem Windschatten und mit ihrer Vorbildwirkung heutige Pop-Größen wie Lorde, Halsey oder Sky Ferreira heranreiften. Und natürlich Billie Eilish, die in einem als Interview getarnten Seelengespräch mit Del Rey zugab, dass diese ihr erstes Hintergrund-Bild am Smartphone gewesen wäre.
Abseits der toxischen Männerwelt, die Del Rey beständig irgendwo zwischen fleischlichen Gebrauchsgegenstand und Heulsuse einzuordnen wusste, ist ihre Wirk- und Signalkraft auf das amerikanische Pop-Business und eine neue Form der Selbstermächtigung für Frauen nicht hoch genug einzuschätzen. Geschickt entzog sie sich immer wieder gängigen Marktmechanismen und schaffte es, zwar mit den Größten der Zunft zusammenzuarbeiten, aber niemals markante Klang-Zugeständnisse machen zu müssen. Die elegische Ruhe von „Honeymoon“ (2015), das kompositorische Meisterstück „Norman Fucking Rockwell!“ (2019) oder der völlig überraschend getätigte 2021er-Doppelschlag „Chemtrails Over The Country Club“ und sechs Monate später „Blue Banisters“ präsentierten einen klanglichen Eklektizismus, dessen Detailverliebtheit über den konstanten Erregungszustand der waidwund Empörten hinausreichte.
Familienwerk
Das marketing-technisch mutig betitelte, bereits neunte Studioalbum „Did You Know That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd“, dient mit fast 80 Minuten Spielzeit, diversen Interludes und ungezügelt umherspringenden Klangveränderungen als eine Art Querverstrebung über die bisherige Erfolgskarriere der Interpretin. Schon im Gospel-haft einleitenden Opener „The Grants“ bezieht sie sich auf ihren echten Familiennamen, Schwester, Vater, Großvater und Ex-Freund nehmen im Verlauf des Werkes elementare Rollen ein. Zum bereits dritten Mal kooperiert sie mit ihrem guten Freund Father John Misty und der Superstar-Haus-und-Hof-Produzent Jack Antonoff veredelt einmal mehr klanglich. Er hat auch die Brücke zu Taylor Swift geschlagen, auf deren Meisterwerk „Midnights“ Del Rey letzten Herbst als einziger Gast zu hören war. Der mit Antonoffs Band Bleachers aufgenommene Song „Margaret“ handelt sogar von dessen Ehefrau, womit Lana nicht nur ihre biologische, sondern auch gefühlte und ausgesuchte seelische Familie prominent ins Zentrum rückt.
Im Mittelteil wird Del Rey in den Songs „Kintsugi“ und „Fingertips“ so persönlich und intim wie nie zuvor und sinniert darüber, ob sie dazu bereit wäre, Mutter zu sein. Wo die Künstlerin in den letzten Jahren vor allem das Bild eines romantischen wie auch knallharten Amerika zeichnete, geht sie auf ihrem neunten Studiowerk tief in ihr Innerstes und erzählt bereitwillig von einer Vertraulichkeit, die sie lieber in zarten Songgedichten, als in biederen Instagram-Posts mit der Öffentlichkeit teilt. Lana schlägt in vielen Song die Brücke zur Vergangenheit. Immer wieder gibt es Samples oder Textzitate aus ihrer eigenen Vita, beim abschließenden „Taco Truck x VB“ lässt sie ihren Megahit „Venice Bitch“ noch einmal durch den Äther rauschen. Nicht zuletzt sind solche Einsprengsel dem gestärkten Selbstverständnis einer Künstlerin geschuldet, die nach jahrelanger unreflektierter Kritik längst darübersteht und sich nicht mehr aus ihrem Konzept schütteln lässt. Weitere wundervolle Album-Momente: der flüssige Sample-Rap in „Peppers“ mit Tommy Genesis oder der Break in der Mitte des grenzgenialen „A&W“, wo sich der Song von einem düsteren Noir-Stück zu einem elektronisch-repetitiven Rhythmus-Monster verwandelt.
Lana mag man eben
„Did You Know…“ erklingt in seiner ausfüllenden und zeitenumspannenden Ausführung tatsächlich wie eine umfassende Karriereretrospektive, die sich nicht davor scheut, ein neues Kapitel der Zukunft aufzuschlagen. Del Rey erklärte in einem langen Interview mit dem „Rolling Stone“, dass sie im Vorjahr das erste Mal seit Ewigkeiten plötzlich ein Gefühl der Leichtigkeit und Zufriedenheit verspürt hätte. Gekommen aus dem Nichts, nicht festzumachen, wie es dazu kam. Wie keine zweite malt sie in ihren Songs Bilder einer uns so fern liegenden Welt voller Eskapismus. Dem ihr uncharmant vorgeworfenen Hass aus dem Schutz der Wohnzimmer-Tastatur-Anonymität schiebt sie mit viel Selbstvertrauen und einem Urinstinkt für bedeutungsvolle Lieder einen Riegel vor. In einer Welt der TikTok-Soundsnippets und formelhaft kreierten KI-Popsongs ist „Did You Know…“ ein wohliger Sprung in ein versatiles und aus allen Normen brechendes Art-Pop-Abenteuer. Lana mag man eben.
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