Er besuchte die Nenzen in der Tundra, er schwamm mit Delfinen im Schwarzen Meer, er war Korrespondent im Gespräch mit einem Kosmonauten - die Kamera immer dabei. Nach seinem überaus spannenden Leben hat Wolfgang Mertin sich nun in Vorarlberg niedergelassen.
Er war Dokumentarfilmer. Seine ganze Liebe galt Russland und der russischen Seele. Seine zahllosen Fernsehreportagen für „Arte“ haben ihn an die entlegensten Flecken der Nordhalbkugel geführt, jenseits des Polarkreises. Dort hat er zum Beispiel den indigenen Stamm der Nenzen-Nomaden porträtiert, deren Lebensgebiet die sibirische Tundra ist. Hat in unglaublich starken Bildern aufgezeigt, wie sehr die Nenzen und ihre Rentierherden von den aus dem Boden schießenden Gasförderanlagen bedroht sind, deren gigantische Trassen die natürliche Weidelandschaft der Rentiere abschneiden und wie endlose Narben die Landschaft übersäen.
Mit seinem langjährigen Kameramann Yuri Burak sind ihm unvergessliche Bilder geglückt. Wenn er etwa das Heimweh der Nenzen-Kinder dokumentiert, die jedes Jahr für neun Monate von ihren Eltern getrennt werden, um an einem weit entfernten Ort eine Internatsschule zu besuchen. Wie in einer Einstellung die Erzieherin einem kleinen Mädchen die Stupsnase zärtlich streichelt, weil es nicht einschlafen kann. Wie eine Rentierhirtin verschämt von Zukunftsängsten erzählt und dabei verlegen das Fell eines Rentiers krault ...
Aufzeigen ganz ohne Zeigefinger
In keinem Film hat Wolfgang Mertin je den Zeigefinger erhoben. Er hat einfach die Bilder erzählen lassen. Lange Einstellungen von atemberaubender Schönheit, aber auch Tristesse. Und immer wieder die Menschen, deren Geschichten und Gesichter er so sehr liebt. Seit vielen Jahren lebt dieser außergewöhnliche Filmemacher gemeinsam mit seiner Frau in Dornbirn. „Wir wollten dort sein, wo unser einziger Sohn Arbeit gefunden hat“, sagt der 81-Jährige nüchtern. „Und wir haben uns in dieses Land verliebt.“
Robert Schneider: Sie stammen aus einem Ort, den es auf der Landkarte gar nicht mehr gibt.
Wolfgang Mertin: Ich bin in Schlossberg in Ostpreußen geboren. Das war die erste deutsche Stadt, die damals von der Roten Armee eingenommen wurde. Da ist auch nichts übriggeblieben. Ich war noch nicht einmal ein Jahr alt, da sind wir auf unserer Flucht durch Thüringen am Kyffhäuser hängen geblieben, eine historisch sehr interessante Gegend südlich des Harzes. Meine Mutter war Lehrerin, meinen Vater habe ich nie gesehen. Der ist in Stalingrad umgekommen. Ich hatte aber einen klugen Großvater, der meinte, wenn es zum Krieg gegen die Sowjetunion kommt, müssen wir die Koffer packen. Ihm habe ich zu verdanken, dass ich am Leben bin.
Was haben Sie gelernt oder studiert?
Zuallererst bin ich Autodidakt. Ich habe als Kind unglaublich viel gelesen, die ganzen Reclam-Heftchen verschlungen. In Meißen machte ich eine Ausbildung zum Porzellanformengießer. Das hat mich aber nie wirklich interessiert. Ich wollte unbedingt Schauspieler werden. Zum Glück bin ich keiner geworden. Ich wäre einfach nicht gut gewesen.
Wie kamen Sie zum Fernsehen?
Angefangen habe ich beim Deutschen Fernsehfunk Berlin offiziell als Lagerarbeiter im Filmarchiv, dann kam eine Sprechausbildung und ein Fernstudium an der Fachhochschule für Journalistik in Leipzig dazu, und so wurde ich Autor und Moderator des Wissenschaftsmagazins „Umschau“. Damals war ja alles noch live. Da stand einer mit einer Stoppuhr hinter der Kamera. Man musste auf die Sekunde genau moderieren. Da habe ich viel für später gelernt.
Im Jahr 1974 wurden Sie Korrespondent des DDR-Fernsehens. Wie kam das? Weil Sie so ein braver Genosse waren?
Die Politik hat mich nie interessiert. Es war die Wissenschaft. Besonders in der damaligen Sowjetunion. Ja das Land überhaupt, aufgrund seiner Kultur und enormen Vielfalt. Nun suchte das Fernsehen Korrespondenten. Alle bewarben sich natürlich auf Bonn, Paris oder Washington. Keiner wollte nach Moskau. Das war meine ganz große Chance, denn mir war völlig klar: Wenn ich als DDR-Korrespondent in Bonn sitze, darf ich sowieso keine eigene Meinung haben, darf nicht über die Schönheiten des Rheins berichten, nur über Arbeitslosigkeit und wie negativ doch alles im Westen ist. Aber in Russland durfte ich meine Themen völlig frei wählen, weil sie eben nicht politisch waren. Ich durfte eine Hundeschlitten-Expedition von Murmansk bis Kamtschatka begleiten, bin mit Delfinen in Batumi am Schwarzen Meer geschwommen. All diese Dinge. Der Wermutstropfen war allerdings, dass ich für die „Aktuelle Kamera“ politische Kommentare zu verlesen hatte. Das war der Preis, den ich zahlen musste, denn Erich Honecker hat diese Texte persönlich redigiert, und ich las dann diese Scheiße vor.
Haben Sie Honecker persönlich gekannt?
Ich musste ihn ja immer bei offiziellen Besuchen begleiten. Allerdings war es uns Korrespondenten untersagt, ein Politbüromitglied anzusprechen, es sei denn, es kam auf Sie zu.
Wie war er als Mensch?
Unglaublich hölzern und spießig. Seine Frau Margot war um vieles intelligenter, gebildeter. Sie sah auch noch gut aus. Jeder fragte sich: Wie kommt Honecker zu so einer Frau? Abends, wenn die Delegation im Hotel noch beisammensaß, hat er gern „Der rote Wedding marschiert“ gesungen. Das war sein Lieblingslied.
Honecker war angeblich eifersüchtig auf Ihre Pelzmütze. Wie ging diese Geschichte?
Ach, darüber kann man heute nur lachen. Mir wurde gesagt, ich sollte eine schönere Schapka als mein Kollege aus dem Westen, Fritz Pleitgen, tragen. Ich besaß eine Wolfsfellmütze aus Burjatien. Ein Riesending, das prächtig aussah. Nun monierte aber die Chefredaktion, dass meine Schapka besser aussähe als die Waschbärmütze von Honecker. Das gehe nicht an. Also las ich die Kommentare dann bei minus 40 Grad ohne Mütze. Zufällig traf ich später einmal ein Politbüromitglied, und das fragte mich: „Warum tragen Sie Ihre schöne Schapka nicht mehr?“
Nach der Wende wurden Sie freier Autor für „Arte“ und andere Sender. Dort haben Sie eine Reihe von bemerkenswerten Dokumentarfilmen realisiert. Weshalb kamen Sie nach Vorarlberg?
Weil mein Sohn, der Tischler ist, in Au in der Schweiz eine Arbeit gefunden hat und eine Wohnung hier in Dornbirn. Die lange Fahrt von Berlin war einfach auf die Dauer unzumutbar. Meine Frau und ich dachten: Schöner, wenn wir beieinander sind.
Sind Sie hier heimisch geworden?
Ich glaube ja. Wir haben uns immer, wo wir auch in der Welt waren, auf das jeweilige Stück Erde konzentriert und versucht so zu leben, wie alle dort leben.
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