Zweite Heimat gefunden

„Als würde mich meine Mutter umarmen“

Vorarlberg
03.04.2023 09:25

Najib Azizi hatte eine wunderbare Kindheit, doch dann kamen die Taliban. Er verlor seine ganze Familie und seine Heimat, schlussendlich hat er nun in Vorarlberg wieder ein Zuhause, eine zweite Mutter und neue Kraft gefunden.

„Der Himmel über Kabul war voller Papierdrachen. Hunderte, nein Tausende stiegen in die Luft. Männer, Frauen, Kinder, einfach alle ließen ihre selbstgebastelten Drachen steigen. Das war bei uns Tradition. Als Kinder konnten wir es kaum erwarten, bis es endlich los ging. Das war immer in den Winterferien. Bei uns sind die Schulferien im Winter.“

Der 47-jährige Najib Azizi aus Afghanistan erzählt mit solcher Begeisterung von der Kunst des Drachenfliegens und -bauens, dass in mir selbst der Bub wieder wach wird. Am liebsten würde ich mit ihm gemeinsam gleich seine Drachen steigen lassen, die er mit unglaublich viel Hingabe baut und bemalt. „Losrennen ist ganz falsch!“, sagt Najib. „Man steht und lässt ihn einfach fliegen. Sogar auf dem Balkon. Es ist eine Frage der Technik. Nie gegen den Wind kämpfen. Der Wind ist mein Freund, nicht mein Gegner.“

„Da habe ich Najib zu mir genommen“
Ich bin mit Herrn Azizi verabredet, bei Kaffee und Kuchen, im Haus einer alten Dame, die für ihn so etwas wie eine zweite Mutter geworden ist. „Dort, wo er nach seiner Flucht aus Afghanistan privat untergekommen ist, spazierte ich oft vorbei. Man hat ihn nur ausgenutzt“, erzählt die Dame. „Da sind wir einander begegnet. Ich fragte ihn eines Tages, weshalb das Licht in seinem Zimmer die ganze Nacht brenne. Er antwortete, dass ihm so viel durch den Kopf gehe und er einfach nicht einschlafen könne. Außerdem hustete er entsetzlich, dass ich mir wirklich Sorgen machte. Bis ich herausfand, dass er in einem Zimmer voller Schimmel leben musste und nicht einmal das Fenster öffnen durfte. Da habe ich Najib zu mir genommen.“

Ersatzmutter und mehr als das: Najib Azizi mit der „Frau Doktor“ (Bild: Mathis Fotografie)
Ersatzmutter und mehr als das: Najib Azizi mit der „Frau Doktor“

Das ist viele Jahre her. In der Zwischenzeit hat Herr Azizi eine Ausbildung zur Pflegehilfe gemacht, die Mittelschule absolviert, arbeitetet beim Mobilen Hilfsdienst und spricht fließend Deutsch. Auch österreichischer Staatsbürger ist er mittlerweile geworden. Wenn er zurückdenkt, übermannt ihn ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. „Ich bin jede Sekunde dankbar. Dankbar ohne Ende, dass ich der Frau Doktor begegnet bin. Nicht, weil sie mir Essen gab, sondern ein Zuhause. Liebe. Ich hoffe, sie bleibt noch lange so gesund. Müsste ich sie vierundzwanzig Stunden auf meinem Rücken tragen, wäre das immer noch zu wenig lang ...“ Die Frau Doktor winkt ab. Ihr ist derart blumig formulierte Anerkennung unangenehm. „Es ist doch selbstverständlich, dass man einem Menschen in der Not hilft“, erwidert sie.

Robert Schneider: Herr Azizi, erzählen Sie mir von Ihrer Kindheit.
Najib Azizi: Es war eine wunderbare Kindheit. Wir haben sorglos in den Straßen von Kabul gespielt, hatten alles, was wir brauchten. Ich stamme aus einer Akademiker-Familie. Mein Vater war Hochschullehrer, meine Mutter Hauptschullehrerin, wie man hier sagt. Bildung war meinem Vater sehr wichtig. Besonders Herzensbildung. Es können zwei Teller ganz gleich aussehen, und doch kann der eine aus schlechtem Ton sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er sagte immer zu uns Kindern: Ihr müsst im Leben gerade gehen, nicht im Zickzack. Wenn ihr jemanden grüßt, aber er grüßt nicht zurück, müsst ihr das auch annehmen.

Wie alt waren Sie, als Sie vor dem Taliban-Regime flüchten mussten?
Ich war neunzehn und Student. Aber reden wir lieber vom Drachenfliegen ...

Ich spüre, dass Herr Azizi nicht über die Vergangenheit sprechen möchte und bin zwiegespalten. Zu viele Menschen gibt es hierzulande, die die Flüchtlingsschicksale herunterspielen, sogar Betrug wittern. Ich bitte Najib trotzdem, seine Geschichte zu erzählen. Und er lässt sich darauf ein. Berichtet, wie eines Tages seine beiden Brüder von der Straße weg verschwanden und nie mehr wiederkamen. Wie seine Eltern und seine Schwester umgebracht wurden. Wie er selbst in einem Kampf auf Leben und Tod schwere Rückenverletzungen erlitten hat und nach Kundus geflüchtet ist, wo er sich sieben Jahre mit Landarbeit irgendwie durchfrettete. Wie er in einem Lkw ohne Wasser und Notdurftmöglichkeit schließlich über die Slowakei nach Österreich kam, anstatt nach London, wofür er eigentlich bezahlt hatte. Aber das Maß der Dinge war noch immer nicht voll. Viele Jahre lebte er hier in Vorarlberg im Ungewissen über den Verbleib seiner Frau und seiner Kinder, um dann zu erfahren, dass auch sie umgebracht wurden.

„Najib ist vor vielen Jahren gestorben. Hier drin“, sagt er und zeigt auf sein Herz. „Ich habe mein ganzes Leben verloren. Dabei bin ich immer fröhlich, tu’ die Leute gerne fuchsen. Die pflegebedürftigen Menschen, die ich jeden Tag betreue, wollen immer nur den Najib. Weil der so viele Späße macht. Aber hier gibt es keinen Reißverschluss (er zeigt wieder auf sein Herz), wo sie sehen könnten, wie es wirklich in mir aussieht.“

Was gibt einem die Kraft, so ein Schicksal zu überleben und dabei noch fröhlich zu sein?
Das kann ich nicht beantworten. Ich lebe. Habe Frau Doktor gefunden, die mir wichtiger geworden ist als meine Mutter damals.

Najib Azizi im Gespräch mit „Krone“-Kolumnist Robert Schneider (Bild: Mathis Fotografie)
Najib Azizi im Gespräch mit „Krone“-Kolumnist Robert Schneider

Wissen Sie noch, wie das war, als Sie in Feldkirch angekommen sind?
Ganz genau. Das war am 22. Mai 2004, kurz vor 18 Uhr. Ich stand am Bahnhof, sprach kaum Englisch und überhaupt kein Deutsch. Ich wusste nicht einmal, was Österreich ist. Eine Stadt? Ein Land? Wo überhaupt? Gut? Schlecht? Da half mir ein Taxifahrer. Der brachte mich zur Notschlafstelle der Caritas. Ich glaube, ich habe drei Nächte und drei Tage lang durchgeschlafen. Viele Jahre habe ich diesen Taxifahrer gesucht. Er hatte lange Haare. Ich wollte mich bei ihm bedanken. Habe ihn aber nie mehr gesehen.

Sie sind ein begnadeter Papierdrachenbauer und auch -lenker. Worin besteht diese Kunst?
Das ist wie mit einer Geliebten. Wenn sie sagt, ich habe keine Lust, dich zu sehen, warte ich halt, bis sie Lust hat, mich zu sehen. Und dann fliegen wir ganz von selbst. Damals in Kabul, als ich noch ein kleiner Junge war, haben wir uns regelrechte Gefechte geliefert. Es gab richtige Drachenkämpfe. Da ging es darum, welche Drachenschnur die stärkste ist. Mit einer scharfen Schnur, die wir mit feingestampftem Glas eingerieben haben, versuchten wir, die anderen Schnüre zu kappen. Wer zuletzt oben blieb, war der Sieger.

Nun leben und arbeiten Sie schon fast zwanzig Jahre in Vorarlberg. Würden Sie nach Afghanistan zurückkehren, wenn es wieder ein freies Land würde?
Niemals. Hier ist meine Heimat. Ich habe viele Freunde gefunden, die hinter mir stehen. Wo man sich sicher fühlt, das ist Heimat. Dieses Land ist, als würde mich meine Mutter umarmen.

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