Wagner-Chef zweifelt
Doch keine Nazis? Russland ringt um Kriegsgrund
Einer der wesentlichen Rechtfertigungen der russischen Führung für den Angriffskrieg gegen die Ukraine ist, dass die Regierung in Kiew angeblich von „Nazis“ gelenkt werde, von denen man das Nachbarland befreien müsse. Für objektive Beobachter eine unhaltbare Lüge - und auch innerhalb Russlands ist es zunehmend schwierig, sie aufrechtzuerhalten.
Denn an der Kreml-Darstellung kommen Zweifel aus den eigenen Reihen. So stellte der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, jüngst öffentlich infrage, dass es tatsächlich „Nazis“ in der Ukraine gebe. Deswegen sei er sich nicht sicher über das offizielle Ziel Russlands, die Ukraine „entnazifieren“ zu wollen, erklärte er im Telegram-Kanal seiner Firma Concord.
Waschechte Neonazis sind dagegen auf russischer Seite zu finden. Die Einheit „Rusich“ wurde von einem russischen Neonazi gegründet, führt rechtsextreme Symbole wie die „Schwarze Sonne“ in ihrem Emblem und kämpft als Teil der Wagner-Gruppe an der Seite der russischen Truppen und ist möglicherweise für die Enthauptung eines gefangenen ukrainischen Soldaten verantwortlich.
„Lebensraum“ erobern
Auf Telegram erklärte der Anführer der Gruppe nun ebenfalls, dass Faschisten oder Nazis auf der ukrainischen Seite „fast nicht-existent“ seien. Er führt andere Gründe an, warum man in der Ukraine Krieg führe - und verwendet dabei deutliche Nazi-Rhetorik: Man kämpfe „für den Lebensraum für unser nordisches Volk“, heißt es etwa. Die Gegner werden unter anderem als „Untermenschen“ bezeichnet.
Vor kurzem teilte die „Rusich“-Einheit zudem das Video der Enthauptung eines gefangenen ukrainischen Soldaten und schrieb dazu, dass viele weitere folgen sollten. Möglicherweise ist die Gruppe auch selbst für den Mord verantwortlich.
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Wegen derartiger Äußerungen ringe der russische Staat um die Einheitlichkeit bei seiner Kernerzählung, dass der Einmarsch in die Ukraine den sowjetischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg entspreche, so das britische Verteidigungsministerium am Samstag, das sich auf Analysen der Geheimdienste stützt.
Behörden wärmen entlarvte Mythen auf
Die russischen Behörden versuchen deswegen, die Öffentlichkeit in ihrem Land zu einen, indem man entlarvte Mythen der 1940er Jahre wieder aufwärmt. So habe laut dem Londoner Ministerium Mitte April die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti von „einzigartigen“ Dokumenten aus dem Archiv des Inlandsgeheimdienstes FSB berichtet, wonach die Nazis im Jahr 1940 in die Ermordung Tausender Polen beim Massaker von Katyn verwickelt gewesen seien.
In Wirklichkeit war für den Massenmord an etwa 4400 gefangenen Polen, hauptsächlich Offizieren, das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) verantwortlich, der Vorgängerbehörde des Geheimdienstes FSB. Die russische Staatsduma verurteilte Sowjetdiktator Josef Stalin posthum 2010 offiziell dafür, dass er die Morde angeordnet hatte. Dass derartige klare Positionierungen jetzt wieder infrage gestellt werden, zeigt beispielhaft, wie sehr Putins Kriegsrhetorik die öffentliche Meinung in Russland vergiftet hat.
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