Experten streiten
Wer steckt hinter Kreml-Attacke? Eine Spurensuche
Moskau wirft Kiew einen Terroranschlag vor. Andere sehen in der Drohnenattacke auf den Kreml eine russische Inszenierung. Nur in einem Punkt sind sich Militärexperten einig: Der Vorfall wirft düstere Schatten voraus. Ein Überblick.
Zwei Drohnen nahmen in der Nacht auf Mittwoch Kurs auf den Kreml und explodierten knapp über den Dächern des Regierungsviertels in Moskau. Im Internet verbreitete Bilder zeigen, wie eine Drohne in einem Flammenball aufgeht, als sie auf die Kuppel des Kremls stürzt, und wie eine andere in Stücke zerfetzt wird, als sie einen Fahnenmast mit der russischen Trikolore trifft (siehe Video oben).
Über diesen millionenfach geteilten Szenen schwebt folgende Frage: Wer ist dafür verantwortlich? Denn die Folgen des Vorfalls könnten enorm sein.
Niemand will es gewesen sein
„Wir werten dies als einen geplanten Terrorangriff und als Anschlag auf den Präsidenten im Vorfeld der Siegesparade am 9. Mai“, teilte das russische Präsidialamt nach dem Vorfall mit. Die Ukraine wiederum stellt der Weltöffentlichkeit folgende Frage: wozu? „Das löst kein militärisches Problem“, ist von Wolodymyr Selenskyj und seinen Vertrauten zu hören.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sieht gar die USA hinter dem „Anschlag“: „Wir wissen sehr gut, dass Entscheidungen über solche Aktionen und solche Terroranschläge nicht in Kiew, sondern in Washington getroffen werden“, zitieren russische Staatsmedien den Vertrauten von Wladimir Putin.
Die US-Regierung bezeichnet die Anschuldigungen als „lächerlich“. „Die Vereinigten Staaten hatten nichts damit zu tun. Wir wissen nicht einmal genau, was hier passiert ist“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby. Und weiter: „Herr Peskow lügt.“ Alle Seiten bleiben Beweise für ihre Aussagen schuldig.
Fest steht, dass die Ukraine über einen gut informierten Geheimdienstapparat verfügt - unterstützt durch die USA und andere Nationen. Dass Putin sich zum Zeitpunkt des Angriffs nicht im Kreml aufhielt, dürfte bekannt gewesen sein. Was einen Anschlag auf sein Leben so gut wie ausschließt. Dafür wären auch die getragenen Sprengladungen zu klein gewesen, sind sich Experten einig.
Was aber auch als gesichert gilt, ist, dass die Ukraine in der Lage ist, solche militärischen Operationen durchzuführen. „Die Ukraine verfügt über Drohnen mit so einer Reichweite“, erklärte Russland-Experte Gerhard Mangott gegenüber mehreren Medien.
Der Generalstab der Ukraine verkündete am 27. Jänner offiziell die Bildung einer militärischen Drohnen-Einheit im Kampf gegen Russland. Die „Washington Post“ zählte Ende März mindestens 27 Drohnenangriffe innerhalb Russlands. Zuletzt sorgten spektakuläre Sprengungen russischer Tanklager für Aufsehen. Zudem wurde durch ein US-Datenleck von streng geheimen Informationen bekannt, dass Kiew bereits zum Jahrestag des russischen Einmarsches im Februar einen Drohnenangriff auf Moskau plante. Doch Washington intervenierte.
Drohnen können Ukraine nicht zugeordnet werden
Die Drohnen, die auf den Kreml zusteuerten, können aber nach aktuellem Stand nicht der Ukraine zugeordnet werden. Zudem wirken sie im Maßstab zur Kreml-Kuppel verhältnismäßig klein. Drohnen dieser Größe können im Normalfall keine Distanz von mehreren hundert Kilometern zurücklegen. Ein Start auf russischem Gebiet gilt als wahrscheinlich.
Was spricht für russische Inszenierung?
Das renommierte Institut für Kriegsstudien (ISW) geht von einer Inszenierung Moskaus aus. Grundziel der Aktion sei es, eine breitere Unterstützung innerhalb der Bevölkerung für den Krieg zu generieren. Durch die Attacke auf den Kreml wirke dieser näher und „existenzieller“.
Eine breitere Mobilisierung sei aufgrund der bevorstehenden Gegenoffensive der Ukraine notwendig, da Russland schwierige Kriegsmonate bevorstehen würden. Der US-Denkfabrik zufolge sei es „äußerst unwahrscheinlich“, dass zwei Drohnen mehrere Luftverteidigungsringe durchdringen und direkt über dem Herzen des Kremls detonieren.
Russland hat seine Luftverteidigung seit Anfang des Jahres bedeutend mit Panzir-Abwehrsystemen (ein modernes russisches Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-System, Anm.) verstärkt. Auch auf Moskaus Dächern, wie geolokalisierte Bilder zeigen. Hinzu kommt: Der Vorfall ereignete sich mitten in der Nacht und wurde dennoch in erstaunlicher Qualität filmisch festgehalten. Offenbar von mehreren Personen, teilweise aus erhöhten Positionen, aber auch von Überwachungskameras.
Russland kommunizierte zuletzt bei militärischen Niederlagen äußert ungeschickt und unkoordiniert. Es dauerte oft sehr lange, bis alle Ministerien eine „Linie“ gefunden hatten. Laut ISW deutet die sofortige und koordinierte russische Reaktion auf den Vorfall darauf hin, dass der Angriff intern so vorbereitet wurde, dass seine beabsichtigten politischen Auswirkungen die Peinlichkeit überlagert, die ein Einschlag am Kreml bedeuten würde.
Der Kreml habe zudem bereits früher versucht, die Ukraine als existenzielle Bedrohung für die territoriale Integrität Russlands darzustellen. Auch das Weiße Haus verweist auf Russlands Historie sogenannter False-Flag-Operationen. Die äußerst einflussreiche Militärblogger-Blase Russlands hat bereits angebissen. Die Meinungsmacher schreien bereits nach Vergeltungsschlägen und einer härteren Gangart gegenüber der Ukraine.
Russland-Experte vermutet ukrainische Drahtzieher
Der Historiker und Russland-Experte Peter Ruggenthaler sieht hingegen eine symbolische Botschaft aus der Ukraine. Kiew wolle Moskau zeigen, wozu ukrainische Streitkräfte mittlerweile fähig seien. „Dafür ist es auch bereit, das Risiko eines Gegenschlags gegen Kiew und die Kiewer Machtzentrale in Kauf zu nehmen - weil es sich in Sicherheit wägt“, so der Russland-Kenner im Gespräch mit krone.at.
Russland begann derweil am Donnerstag in den frühen Morgenstunden, Großstädte in der Ukraine mit Drohnen anzugreifen. Luftschutzsirenen und eine Reihe von Explosionen durchbrachen die nächtliche Stille im Zentrum von Kiew, berichteten Journalisten vor Ort. Die Explosionen erschütterten Gebäude, Fensterscheiben zersplitterten. Auch in der Hafenstadt Odessa kam es zu Angriffen.
Auf den Wrackteilen der Drohnen waren die Schriftzüge „Für Moskau“ und „Für den Kreml“ gekritzelt, berichtet der russischsprachige Telegram-Kanal Nexta mit Sitz in Warschau. Großgeschrieben sind dabei die Propaganda-Buchstaben „Z“ und „V“.
Wer auch immer hinter der Drohnenattacke auf den Kreml steckt, in einem Punkt sind sich Ruggenthaler und andere Experten einig: Wir befinden uns nun in einer neuen, gefährlicheren Phase des Krieges.
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