„Realistische Chance“

Soziologe erwartet Abwahl Erdogans

Ausland
11.05.2023 07:06

Der in Wien lebende Soziologe Kenan Güngör erwartet bei der bevorstehenden Präsidentenwahl in der Türkei eine Abwahl von Langzeitpräsident Recep Tayyip Erdogan. Wenn nicht im ersten Wahlgang, so dürfte es für Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu in der Stichwahl zum Sieg reichen. Die Wähler der beiden anderen Kandidaten würden nämlich eher zur Opposition tendieren. Als „große Unsicherheitszone“ sieht Güngör das Erdbebengebiet in der Südosttürkei. Dort könnte es zu größeren Manipulationsversuchen kommen.

Kann Recep Tayyip Erdogan genug Wähler mobilisieren? (Bild: APA/AFP/Press Office of the Presidency of Turkey/HANDOUT)
Kann Recep Tayyip Erdogan genug Wähler mobilisieren?

Denn der Wahlkampf „ist manipuliert“. Die Frage sei aber, ob die Wahlzettel auch manipuliert seien. Der Politikberater glaubt nicht, dass das in sehr großem Umfang geschehe. Kritik übt Güngör im Gespräch mit der APA am massiven Einsatz des Staatsapparates durch Erdogan und seine konservativ-islamische AK-Partei. Dies gehe so weit, dass der Innenminister sogar Zugriff auf die Wahlurnen verlangt habe, was ein „absolutes No Go“ sei. Die Wahlbehörde habe diesen Angriff aber abwehren können. Auch die Opposition tue alles, um Wahlbetrug zu verhindern.

Schafft Oppositionskandidat absolute Mehrheit auf Anhieb?
Als fix gelte: Erdogan wird nicht im ersten Wahlgang siegen. Kilicdaroglu könnte die absolute Mehrheit hingegen auf Anhieb schaffen. Dies hänge davon ab, wie viele Stimmen auf die weiteren Kandidaten, Kilicdaroglus Ex-Parteifreund Muharrem Ince und den Nationalisten Sinan Ogan, entfallen werden. Deren Wähler würden in der Stichwahl „zu 60 bis 70 Prozent“ Kilicdaroglu wählen, sagte der Experte. „Dann müsste es (für den Oppositionsführer) klappen.“ Dies gelte freilich nur, wenn keine unvorhergesehenen Ereignisse wie Terroranschläge dazwischenkommen. In den Umfragen hat sich der 74-jährige Kilicdaroglu zuletzt einen leichten Vorsprung verschaffen können. Vor allem seit den verheerenden Erdbeben vom 6. Februar hat er hinzugewonnen.

Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu tritt bei den im Mai geplanten Präsidentenwahlen gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan an. (Bild: AFP/Adem Altan)
Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu tritt bei den im Mai geplanten Präsidentenwahlen gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan an.

Verlassen konnte sich Erdogan bisher auf die Unterstützung der Auslandstürken, auch in Österreich. Dies könnte sich ebenfalls deutlich ändern. Diesmal dürften rund 60 Prozent der Auslandswähler in Österreich für Erdogan stimmen, erwartet Güngör. Vor fünf Jahren waren es 73 Prozent gewesen. Die in Österreich verbuchte Rekordbeteiligung von über 56 Prozent sei auf eine stärkere Mobilisierung des Oppositionslagers zurückzuführen. „Es ist eine Wahl, wo die Opposition zum ersten Mal eine realistische Chance hat zu gewinnen“, erklärt Güngör. Hingegen sei bei traditionellen AKP-Wählern eine „leichte Distanzierungstendenz“ zu bemerken.

Erdogan gibt sich nach seiner krankheitsbedingen Wahlkampfpause wieder als starker Mann an der Spitze der Türkei. (Bild: EPA)
Erdogan gibt sich nach seiner krankheitsbedingen Wahlkampfpause wieder als starker Mann an der Spitze der Türkei.

Auslandswähler werden kritisch gesehen
Laut dem Experten ist nicht auszuschließen, dass sich Erdogan mit den Stimmen der Auslandstürken im Rennen halten und eine Stichwahl erzwingen könnte. In der Türkei werde die Rolle der Auslandswähler schon seit geraumer Zeit „kritisch diskutiert“. „Ihr lebt seit Jahrzehnten im Ausland, ihr entscheidet über unser Schicksal und trägt keine Konsequenzen“, laute der Vorwurf seitens vieler Türken im Mutterland.

Kenan Güngör (Bild: Jöchl Martin)
Kenan Güngör

„Marshallplan“ für die Türkei
Sollte es zu einem Machtwechsel kommen, müsse die Europäische Union die neue Regierung unterstützen. Es sei nämlich zu befürchten, dass sich die Wirtschaftskrise nach der Wahl noch vertiefen wird, weil ein Kassasturz größere Finanzprobleme aufzeigen dürfte, die von der Regierung Erdogan „zugedeckt“ worden seien, so Güngör. Deshalb brauche es einen „Marshallplan“ für die Türkei.

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