US-Migrationskrise
„Schleusen geöffnet“: Wenn aus Hoffnung Hölle wird
Die USA sehen sich mit einer großen Flüchtlingswelle konfrontiert. Einer der Gründe: das Kleingedruckte des ausgelaufenen Corona-Notstandes. Zehntausende Menschen begeben sich nun in Lebensgefahr, teils getrieben durch Falschnachrichten, um am Ende doch enttäuscht zu werden.
Sie wandern unter widrigsten Bedienungen durch den Dschungel, durchqueren Flüsse, begeben sich in lebensbedrohliche Situation. Sie schlafen im Freien oder haben ihr letztes Geld für ein Zelt ausgeben. Sie kommen aus Venezuela, Nicaragua und anderen Ländern. Ihr Ziel: die USA. Ihre Hoffnung: ein besseres Leben.
Durch das Auslaufen der sogenannten „Titel-42“-Regelung droht an der US-Grenze zu Mexiko eine schlimme Migrationskrise.
Was ist die „Titel-42-Regelung“?
Die Anordnung ermöglichte es den Behörden, Migranten an den Landgrenzen der USA schnell abzuschieben. Nach offiziellen Angaben wurden Personen so 2,8 Millionen Mal an der Grenze zwischen den USA und Mexiko ausgewiesen.
Am 11. Mai um 23.59 Uhr wurde in den USA der Corona-Notstand aufgehoben und damit auch die Sonderregelung. Seit Monaten werden Menschen unter fadenscheinigen Vorwänden gelockt, sich auf eine gefährliche Reise zu begeben.
Falschnachrichten befeuern Flüchtlingsstrom
Unter Schmugglern und Migranten wird die Rückkehr der herkömmlichen Grenzregeln fälschlicherweise als die „Öffnung der Schleusen“ angepriesen. Auf TikTok wurden Beiträge mit dem Tag „#titulo42“ knapp 100 Millionen Mal aufgerufen. In einem beliebten Beitrag heißt es: „11. Mai: Du kannst nicht abgeschoben werden. Titel 42 ist zu Ende.“ Doch das ist falsch.
Fortan will die Biden-Regierung sich auf ein unter dem Namen „Title 8“ bekanntes älteres Regelwerk stützen, das in den vergangenen Jahren parallel zu Title 42 angewandt wurde. Dieses ist stellenweise schärfer als die Corona-Regeln und sieht unter anderem Strafen für versuchte illegale Grenzübertritte vor, darunter ein fünfjähriges Einreiseverbot. Gemäß einer jüngst beschlossenen Regelverschärfung sollen Menschen zudem ihren Anspruch auf Asyl verlieren können, wenn sie illegal in die USA einreisen.
US-Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas stimmte am Mittwoch die Öffentlichkeit auf eine Zuspitzung der Lage ein. In den US-Grenzstädten El Paso, Brownsville und Laredo in Texas etwa werde mit der Ankunft von bis zu 12.000 Migranten pro Tag gerechnet, berichtete die mexikanische Zeitung „Milenio“ am Mittwoch.
Mayorkas erklärte, die US-Regierung habe sich lange auf den Wegfall der Pandemie-Regelung vorbereitet und verstärke das Personal an der Grenze deutlich. Er betonte erneut: „Unsere Grenze ist nicht offen. Die Grenze illegal zu übertreten, verstößt gegen das Gesetz.“
Viele Experten befürchten einen Zusammenbruch des Systems, da Arrestzellen und andere Grenzeinrichten bereits völlig überfüllt sind. Die Zahl der illegalen Übertritte hat diese Woche die Marke von 10.000 pro Tag erreicht, berichtet die „Washington Post“. Eine noch nie dagewesene Marke. „Es ist nicht erst seit gestern bekannt, dass Titel 42 ausläuft. Joe Biden hat das aus meiner Sicht verschlafen“, meint Günter Bischof, Leiter des Center Austria an der University of New Orleans, im Gespräch mit krone.at.
Flucht vor wirtschaftlichem Bankrott
Die aktuelle Situation sei Ausdruck „der tiefen sozialen Krise in Lateinamerika“, sagt der Historiker der US-Geschichte. Die Pandemie und die darauffolgende Rezession traf Lateinamerika härter als viele andere Teile der Welt. Der Wirtschaftsschock stürzte Menschen in Hunger, Not und Verzweiflung. Ausbrüche von Gewalt und bewaffnete Konflikte multiplizierten die Krise. Der Krieg in der Ukraine führte schlussendlich noch zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise.
In vielen Ländern südlich der USA ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Kolumbien verzeichnet gar den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen.
Venezuela erlebte bereits vor der Pandemie eine schlimme Wirtschaftskrise. Die Folge: Ein Massenexodus seit 2015. Etwa 7,2 Millionen Venezolaner - etwa ein Viertel der Bevölkerung - haben das Land seither verlassen, viele von ihnen quälen sich in diesem Augenblick auf der Dschungelroute „Darién Gap“ Richtung USA. Nicht wenige in der Annahme, mit offenen Armen begrüßt zu werden.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass in diesem Jahr bis zu 400.000 Menschen die etwa 110 Kilometer lange Passage zwischen Süd- und Mittelamerika passieren werden - fast das 40-fache des Jahresdurchschnitts von 2010 bis 2020.
Der „perfekte Sturm“
„Solange sich die Situation in den Ursprungsländern nicht beruhigt, wird die Krise an der US-Grenze weitergehen“, sagt Bischof. Auch Dan Restrepo, ein ehemaliger Topberater von Ex-Präsident Barack Obama für Lateinamerika, spricht gegenüber der „New York Times“ von „einem perfekten Sturm“: „Man könnte sich keine schlechteren Fakten ausdenken, um zig Millionen Menschen keine andere Wahl zu lassen als umzuziehen.“
Ein Sechs-Punkte-Plan, den das Heimatschutzministerium bereits im Vorjahr veröffentlicht hatte, sieht angesichts des bevorstehenden Wegfalls der „Titel-42-Regelung“ unter anderem den Ausbau von Betreuungseinrichtungen für Migranten und anderer Kapazitäten entlang der Grenzen vor, ebenso wie den verstärkten Kampf gegen Schlepperei.
Gleichzeitig forderte die Behörde in dem Papier vom US-Kongress eine umfassende Reform des US-Immigrationswesens. Doch in den USA blockieren sich Republikaner und Demokraten hier seit Jahren, was immer wieder zu Skandalen führte. Unvergessen sind die unrühmlichen Szenen von Kindern in Käfigen - getrennt von ihren Eltern - während Donald Trumps Präsidentschaft im Jahr 2018.
Die breite Ablehnung der Migranten - vor allem aus Lateinamerika - ist deutlich rassistisch geprägt. Und gewissermaßen absurd. Die USA brauchen Arbeitskräfte.
Günter Bischof
Doch auch unter Biden herrscht Stillstand. Er hatte das Thema der Vize-Präsidentin Kamala Harris übertragen. Doch die bleibe auch hier „farblos“, meint Bischof: „In den USA findet in der Migrationspolitik nur alle 30, 40 Jahre ein großer Wurf statt - und danach herrscht Stillstand. Das beste Beispiel hierfür ist der texanische Gouverneur Gregg Abbott. Er setzt Migranten lieber in Busse nach New York, als sich mit dem Problem zu beschäftigen.“
Ablehnung in der Bevölkerung wächst
Zudem wird das Thema auch in der amerikanischen Gesellschaft immer aufgeladener diskutiert. Eine Gallup- Umfrage ergab, dass etwa 19 Prozent der Demokraten angaben, weniger Einwanderung zu wollen. Ein deutlicher Anstieg gegenüber zwei Prozent im Jahr 2021. Republikaner sind weiterhin mehrheitlich (71 Prozent) dagegen.
„Die breite Ablehnung der Migranten - vor allem aus Lateinamerika - ist deutlich rassistisch geprägt. Und gewissermaßen absurd. Die USA brauchen Arbeitskräfte“, gibt Bischof zu bedenken. Teilweise wird so händeringend nach Arbeitskräften gesucht, dass Republikaner in mehreren US-Bundesstaaten vorschlagen, die Beschränkungen für Kinderarbeit aufzuweichen.
Die US-Regierung hat 24.000 Grenzpolizisten im Einsatz und zusätzliche 1.500 Soldaten zur Unterstützung mobilisiert. Für Zehntausende Menschen, die sich auf den mühsamen Weg gemacht haben, droht der „Amerikanische Traum“ jetzt zum Albtraum zu werden. Spätestens seit Mitternacht dürfte das US-Luftschloss Hoffnung zur Hölle geworden sein.
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