Unter 50 Prozent

Türkei: Erdogan muss wohl in eine Stichwahl

Ausland
14.05.2023 22:24

Die Entscheidung über den Ausgang der türkischen Präsidentenwahlen fällt möglicherweise erst in einer Stichwahl am 28. Mai. Bei der Auszählung von rund 89 Prozent der Stimmen lag Präsident Recep Tayyip Erdogan bei rund 49,94 Prozent und damit unter der erforderlichen absoluten Mehrheit, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntagabend berichtete. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, gemeinsamer Kandidat eines Sechser-Bündnisses, lag demnach bei 44,3 Prozent. Eine Stichwahl ist erforderlich, wenn kein Kandidat in der ersten Runde mindestens 50 Prozent der Stimmen erhält. Um die Teilergebnisse wurde auch bereits heftig gestritten.

Neben den beiden gab es in der ersten Wahlrunde noch einen anderen, unbekannteren Kandidaten, nämlich Sinan Ogan, der nach vorläufigen Ergebnissen auf 5,3 Prozent kam. Ein weiterer Kandidat, Muharram Ince, hatte sich aus dem Rennen genommen, trotzdem aber 0,5 Prozent der Stimmen erhalten. Die Opposition übte scharfe Kritik an den Zahlen von Anadolu und hält diese für nicht belastbar.

Kilicdaroglu hatte während der Stimmauszählung am Sonntagabend erklärt, er liege vorne. Die Staatsagentur veröffentlicht in der Regel zunächst die Auszählungsergebnisse in Erdogan-Hochburgen. Die ersten Daten lassen daher noch keine Rückschlüsse auf das Endergebnis zu.

Auszählung absichtlich langsamer gemacht?
Die türkische Opposition warf der Regierungspartei taktische Manöver bei der Stimmauszählung nach den Wahlen vor. In Hochburgen der Opposition lege die islamisch-konservative AKP bewusst Einspruch gegen die Ergebnisse ein, sagte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der größten Oppositionspartei CHP am Sonntagabend in Ankara. Dadurch werde die Auszählung langsamer gemacht, und das Ergebnis falle zunächst zugunsten der Regierung aus.

Nach den ihnen vorliegenden Zahlen zeichne sich bei der Regierung ein Abwärtstrend ab, „das ist eindeutig“, sagte Imamoglu. Der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, sagte unter Berufung auf Wahlprotokolle, Oppositionsführer Kilicdaroglu liege mit rund 47,4 Prozent knapp vorne. Präsident Erdogan komme demzufolge auf rund 46,8 Prozent der Stimmen. Rund 92.000 Wahlurnen von insgesamt rund 192.000 seien ausgezählt. Er gehe davon aus, dass die Präsidentenwahl schon in der ersten Runde entschieden werde.

Kilicdaroglu war in Umfragen vorne gelegen
Die türkische Regierung warf der Opposition indes eine „diktatorische Haltung“ während der Stimmauszählung vor. Frühzeitig ein Ergebnis bekannt zu geben, ist „politischer Raub“, sagte der Sprecher der regierenden AKP, Ömer Celik, am Sonntagabend. Zahlen des oppositionsnahen Nachrichtenportals Anka zufolge lagen Erdogan und Kilicdaroglu nach Teilauszählungen fast gleichauf - und beide unterhalb von 50 Prozent. Die meisten Umfragen hatten einen knappen Vorsprung Kilicdaroglus bei der Präsidentenwahl vorhergesagt, manchen von ihnen zufolge konnte er sich sogar Hoffnung auf einen Sieg in der ersten Runde machen.

Erdogan-Partei könnte Platz eins im Parlament verlieren
Neben der Präsidentenwahl fand auch eine Parlamentswahl statt. Hier liege Erdogans AKP mit 32,7 Prozent hinter der oppositionellen CHP von Kilicdaroglu mit 34,8 Prozent, berichtete der Sender Halk TV nach Auszählung von 0,6 Prozent der Stimmen.

Dagegen meldete CNN Turk, Erdogans AKP gewinne 348 Sitze im 600 Sitze umfassenden türkischen Parlament, nachdem die Stimmzettel aus 15 Prozent der Wahlurnen ausgezählt worden waren. Die von Kilicdaroglu angeführte Republikanische Volkspartei (CHP) gewinne 133 Sitze. Das Bündnis aus AKP und drei weiteren Parteien kann demnach mit rund 400 Sitzen rechnen und das Bündnis aus CHP und sechs weiteren Oppositionsparteien könnte 180 Sitze gewinnen.

Österreichs Wahlbeobachter rechnen mit hoher Teilnahme
In der Türkei sind derzeit auch österreichische Nationalratsabgeordnete als OSZE-Wahlbeobachter tätig. Sie habe den Eindruck, dass die „Wahlbeteiligung immens hoch ist“, sagte die SPÖ-Nationalratsabgeordnete Selma Yildirim der APA. Sie sei in einer Volksschule im Istanbuler Stadtteil Üsküdar, erzählt die Tiroler Politikerin, und die Stimmung im Wahllokal sei „angenehm ruhig“, aber auch in diesem konservativen Bezirk sei eine „irre Stimmung für einen Wechsel zu spüren“.

Auffallend sei, dass sich die Oppositionsparteien seit drei Jahren intensiv auf den Wahltag vorbereitet hätten. In der ganzen Türkei gebe es rund 200.000 Wahllokale, sagt Yildirim. Allein die säkulare Mitte-Links Partei CHP habe aber eine halbe Million Freiwillige für die Wahlbeobachtung am Wahltag aufgestellt. „Was auffällt, überall wo wir waren, gab es viele Anwälte“, erzählt sie weiter. So habe die türkische Rechtsanwaltskammer einen Anwalt in fast jedes Wahllokal entsandt. Die Auszählung selbst laufe sehr transparent ab, berichtet Yildirim: „Jeder kann zuschauen.“

Popularität des Staatschefs hatte gelitten
Der seit über zwei Jahrzehnten regierende Erdogan ist inzwischen der mächtigste Staatschef der Türkei seit Atatürk. Allerdings hat seine Popularität gelitten, unter anderem wegen der hohen Inflation, die die Lebenshaltung für viele Türken drastisch verteuert. Erdogan lag zuletzt in Umfragen hinter Kilicdaroglu. Dieser hatte angekündigt, die Türkei wieder zu einer parlamentarischen Demokratie zu machen, die Befugnisse des Präsidenten zu beschneiden und die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern. Zudem will er Friedenssicherung zum zentralen Bestandteil seiner Außenpolitik machen.

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