Waffensysteme im Duell
Putins Raketen: Alles nur Hyperschall und Rauch?
In der Ukraine treffen zwei Giganten der Waffenwelt aufeinander: die russische Hyperschallrakete Kinschal und das US-Luftabwehrsystem Patriot. Die Waffen sind für beide Seite immens wertvoll. So wertvoll, dass Menschen öffentlich gezüchtigt und des Hochverrats angeklagt werden.
Die vergangenen Tage haben das Potenzial, als Wendepunkte des russischen Angriffskriegs in die Geschichte einzugehen. Die Ukraine meldete jüngst zum ersten Mal einen Abschuss der russischen Hyperschallrakete Kinschal. Dienstag folgte die nächste Hiobsbotschaft für den Kreml: über Kiew sollen sechs weitere „Wunderwaffen“ vom Himmel geholt worden sein. Moskau dementiert die Abschüsse.
Der britische Geheimdienst spricht von einer „offensichtlichen Verwundbarkeit“ der Hyperschallraketen. Für Wladimir Putins starke Männer sei das „überraschend wie peinlich“.
Warum ist ein Abschuss der Kinschal so besonders?
In der Ukraine kommt es zum Aufeinandertreffen zweier prestigeträchtiger Waffensysteme. Während Russland mit der Kinschal (NATO-Codename: „Killjoy“) auf die Ukraine schießt, stutzen Selenskyjs Männer und Frauen mit dem US-Luftabwehrsystem Patriot der Hyperschallrakete offenbar die Flügel.
Die Kinschal - zu Deutsch Dolch - galt unter Militärexperten als „revolutionär“. Russlands Machthaber Putin bezeichnete die Rakete bei ihrer Vorstellung im Jahr 2018 als „absolut unverwundbar durch jedes Luft- oder Raketenabwehrsystem“. Seine Drohkulisse untermauerte der Autokrat mit Computeranimationen der Waffe, die sich den Globus entlang- und um Abfangraketen herumschlängelten.
Die von Kampfjets oder Hubschraubern aus der Luft abgefeuerte Rakete kann nach russischen Angaben mit mehr als 12.000 Kilometern in der Stunde die zehnfache Schallgeschwindigkeit erreichen. Die Reichweite wird mit 1.500 bis 2.000 Kilometern angegeben. Ein Abfangen der Waffe gilt daher als besonders schwierig (siehe Grafik unten).
Putins Ankündigungen machten die USA so nervös, dass der US-Kongress allein 2021 3,2 Milliarden Dollar für die Forschung und Entwicklung von Hyperschallwaffen und zugehörigen Abwehrmaßnahmen bereitstellte.
Ist das Patriot-System schneller als der Schall?
Das Flugabwehrsystem des US-Herstellers Raytheon Technologies besteht aus mehreren Komponenten. Dazu zählen neben Abfangraketen in unterschiedlichen Varianten auch Abschussvorrichtungen, ein Radar, ein Leitstand und eine Stromversorgungseinrichtung (siehe Grafik unten).
Gleichzeitig ist das System so aufgebaut, dass es funktionsfähig bleibt, selbst wenn eine Komponente zerstört wird. Die Reichweite des Radars beläuft sich nach NATO-Angaben auf mehr als 150 Kilometer. Auf der Website der deutschen Bundeswehr wird das Patriot-System als „schneller als der Schall“ beschrieben.
Allerdings hat sich bisher weder Raytheon dazu geäußert, ob es zum Einsatz gegen Hyperschallwaffen geeignet ist, noch haben die USA mitgeteilt, ob die jüngst abgeschossenen Kinschal-Raketen zu diesem Zeitpunkt mit Hyperschallgeschwindigkeit flogen. Aktuell besitzt die Ukraine zwei Patriot-Systeme.
Öffentliche Züchtigungen für Blogger
Beide Waffen könnten für die Ukraine und Russland kriegsentscheidend sein. Wie wertvoll die Systeme sind, lässt sich an zwei Fällen ablesen. Nach der Verbreitung von Filmaufnahmen der Flugabwehr in Kiew sind sechs Blogger durch den ukrainischen Geheimdienst SBU zu öffentlichen Reuebekenntnissen gezwungen worden.
„Meine Schuld gestehe ich vollständig ein, bitte beim ukrainischen Volk um Verzeihung und verpflichte mich, das nie wieder zu tun“, sagte eine Bloggerin in dem am Mittwoch vom SBU verbreiteten Video.
Das ukrainische Vorgehen erinnert eher an Praktiken von autokratisch regierten Staaten. Nach dem Motto: Abschreckung um jeden Preis. Die Männer und Frauen hatten Aufnahmen in soziale Netzwerke gestellt, aus denen sich die Positionen der ukrainischen Luftabwehr ableiten ließen.
Danach wurde Medienberichten zufolge mindestens ein Startgerät der US-amerikanischen Patriot-Systeme beschädigt. Den Bloggern droht wegen Verbreitung militärischer Informationen bis zu acht Jahren Gefängnis.
Russische Wissenschaftler wegen „Hochverrat“ festgenommen
Auch in Moskau scheint die Nervosität größer zu werden. Bereits im vergangenen Jahr wurden die am Hyperschall-Programm beteiligten Wissenschaftler Alexander Schipljuk, Anatoli Maslow und Waleri Sweginzew wegen „Hochverrats“ festgenommen. Die Männer werden beschuldigt, Staatsgeheimnisse der Technologie verraten zu haben.
Unsere besten jungen Mitarbeiter verlassen die Wissenschaft.
Offener Brief von russischen Wissenschaftlern
Im Jahr 2012 präsentierten Maslov und Shiplyuk die Ergebnisse eines Experiments zur Entwicklung von Hyperschallraketen auf einem Seminar in Tours, Frankreich. Im Jahr 2016 gehörten alle drei zu den Autoren eines Buchkapitels, das ihre Arbeit beschrieb.
Gehen Putin die Wissenschaftler aus?
In einem am Montag veröffentlichtem Brief skizzieren russische Wissenschaftler ein Klima der Angst. Die Fälle zeigten, dass „jeder Artikel oder Bericht zu Anschuldigungen wegen Hochverrats führen kann“. Ihre Kollegen seien „Patrioten und anständige Menschen“.
Schon jetzt würden sich „die besten Studenten“ weigern, in der Luftfahrt-Forschung zu arbeiten. „Unsere besten jungen Mitarbeiter verlassen die Wissenschaft. Eine Reihe von Forschungsbereichen, die für die Schaffung der Grundlagen für die Luft- und Raumfahrttechnologie der Zukunft von entscheidender Bedeutung sind, werden einfach geschlossen, weil die Mitarbeiter Angst haben, sich in dieser Forschung zu engagieren“, heißt es in dem Schreiben.
Die Wissenschaftler würden sich nicht nur um das Schicksal ihrer Kollegen sorgen, sondern schlichtweg nicht wissen, wie sie ihre Arbeit fortsetzen sollen. Und so gehen Putin womöglich nicht nur seine „unschlagbaren“ Raketen aus, sondern auch die Wissenschaftler.
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