Liegt an Frontlinie

IAEA-Chef: „Beschießt AKW Saporischschja nicht!“

Ausland
20.05.2023 06:00

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz sprach mit Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Große Sorgen macht sich der Argentinier nach wie vor um die Sicherheit des AKW Saporischschja, das praktisch an der Frontlinie in der Südukraine liegt. „Beschießt das AKW nicht oder militarisiert es nicht!“, lautete sein Appell. 

Christian Wehrschütz: Wie vielfältig sind die Gefahren für die Sicherheit des AKWs Saporischschja, das praktisch an er Frontlinie in der Südukraine liegt?
Rafael Grossi: Die erste Gefahr besteht in einem direkten Beschuss des Territoriums des AKW; und das geschah im vergangenen Sommer und dann auch im November, wobei aber nicht die Reaktoren beschossen wurden. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu einem Brand durch Beschuss kommt, der die Reaktoren aber auch die Teile des AKW betrifft, wo nukleares Material gelagert ist; das gilt etwa für die Lager für ausgebrannte und neue Brennstäbe, die weniger geschützt sind, während der Reaktor natürlich von einer sehr starken Hülle umgeben ist. Als ich im September zum ersten Mal im AKW war, war ich schockiert als mir zwei große Löcher gezeigt wurden, die direkter Beschuss ausgelöst hat.

Bei der Katastrophe in Japan im AKW Fukushima fielen die Kühlsysteme für die Reaktoren aus bzw. wurden zerstört. Wie groß ist diese Gefahr in der Ukraine?
Ein sehr großes Risiko bildet der Verlust der externen Stromversorgung; verliert man sie, verliert man die Kühlfunktion, und dann besteht das Risiko einer Kernschmelze - das ist genau das, was in Japan in Fukushima passiert ist. Dort schalteten ich die Reaktoren beim Erdbeben ab wie eine Schweizer Uhr, doch die Flutwelle zerstörte die Dieselgeneratoren, die im Notfall die Reaktoren kühlen sollten. In Saporischschja ging bereits sechs Mal die gesamte externe Stromversorgung verloren, obwohl das AKW verschiedene Formen der Stromversorgung hat, und so mussten die Notfallgeneratoren anspringen.

(Bild: ORF)

Für wie lange reichen die Vorräte an Diesel für diese Generatoren? 
Für zehn Tage oder zwei Wochen.

Die Reaktoren befinden sich derzeit im sogenannten kalten shut down, arbeiten also mit Minimallast. Warum schaltet man das AKW nicht einfach so lange ab, bis der Krieg vorbei ist?
Selbst wenn man die Reaktoren völlig abschaltet, wäre das nukleare Material noch immer da. Das betrifft angereichertes Uran und Plutonium in den abgebrannten Brennstäben. Somit beseitigt man nicht das Risiko durch einen Beschuss, wenn die Reaktoren keinen Strom produzieren. Zweitens gehört das Kraftwerk zwar der Ukraine, befindet sich aber auch russisch-kontrolliertem Gebiet. Somit liegt die Entscheidung, was mit den Reaktoren geschieht, nicht beim rechtmäßigen Eigentümer, sondern beim Besatzer. Die Ukraine will dieses Kraftwerk zurück und braucht es auch, denn die Ukraine ist ein Land, in dem Atomenergie eine sehr große Rolle spielt. Die Hälfte der Energie kommt von den AKWs, und davon wiederum lieferte Saporischschja 20 Prozent, das somit für die Ukraine aber auch aus russischer Sicht künftig ein entscheidender Faktor bleiben wird, wobei wir natürlich keine Kristallkugel haben, um vorauszusehen, wie der Konflikt enden wird.

Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (Bild: ORF)
Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde
IAEA-Chef Grossi in Saporischschja (Bild: AFP/International Atomic Energy Agency/Fredrik Dahl)
IAEA-Chef Grossi in Saporischschja

Auch in der Ukraine brauchen Kraftwerke Ersatzteile für ihren Betrieb. Wie steht es um die Lieferketten, insbesondere ins AKW Saporischschja? 
Die Frage der Lieferketten ist tatsächlich heikel, weil ein AKW wie ein anderer großer Industriebetrieb auch die ganze Zeit Ersatzteile braucht, von der Leitung bis zum Kabel und so weiter. Diese Versorgung ist derzeit nicht einfach; was Saporischschja betrifft, so wird das Kraftwerk derzeit von den Russen kontrolliert, die auch die Lieferungen sicherstellen. Im übrigen Land ist die Lieferkette auf einem minimalen Umfang aufrecht. Was die Versorgung mit atomarem Brennstoff betrifft, so gibt es sehr aktive externe Anbieter wie AMECO und Westinghouse, das auch Brennstoff hat, der genutzt werden kann. Aber wiederholen möchte ich, dass die Lieferketten ein Thema sind, weil sie derzeit in der Ukraine nicht normal funktionieren. Doch abgesehen von Saporischschja funktionieren die anderen AKWs; sie sind die Lebensader für das Land, weil sie eine zuverlässige Quelle der Energieversorgung darstellen. Betonen möchte ich, dass die IAEA-Experten auch in den vier anderen ukrainischen Atomkraftwerken stationiert hat, in den AKWs Tschernobyl, Rivne, Chmelnitzkij und „Südukraine“.

Im AKW Saporischschja arbeiten noch etwa 3000 Personen; ihnen bietet die IAEA medizinische und psychologische Betreuung an. Wie ist die Lage der Mitarbeiter?
Sie befinden sich zwischen Hammer und Amboss, das ist die Realität. Viele gingen vor allem zu Beginn des Konflikts weg, und zwar auf ukrainisch-kontrolliertes Gebiet. Es gibt zweitens eine schwankende Zahl an Mitarbeitern, die in der Region oder in der Stadt Energodar verblieben sind, aber nicht arbeiten. Hinzu kommt, dass Russland eine neue Firma gegründet hat, die dieses AKW betreibt, und von den Mitarbeitern wird verlangt, Arbeitsverträge abzuschließen; das bedeutet eine Änderung ihrer Rechtsstellung, und natürlich sieht das die ukrainische Konfliktpartei als Verrat an. Das bedeutet eine zusätzliche Quelle an Druck; darüber habe ich sogar mit Präsident Wolodymyr Selenskyj gesprochen; allen habe ich gesagt: ,Diese Personen sind die Opfer, und man sollte nicht von ihnen verlangen, eine Rolle zu spielen, die nicht die ihre ist; sie sind keine Kombattanten, sie haben ihre Familien vor Ort, und versuchen, so normal wie möglich zu leben, um diesen Konflikt zu überleben.‘

Blick auf das AKW Saporischschja im September 2022 (Bild: STRINGER / AFP)
Blick auf das AKW Saporischschja im September 2022

Auf Videos sieht man russische Soldaten, die im Kraftwerk auch Mitarbeiter kontrollieren. Wie stark ist die russische Militärpräsenz auf dem Gelände?
Wir versuchen zu vermeiden, dass das Gelände des AKW zur Militärbasis wird, dass es militarisiert wird. Es gibt eine gewisse Präsenz, doch wir überprüfen ständig, dass das Kraftwerk normal arbeiten kann. Was ich erreichen möchte, ist eine Art Vereinbarung, die beinhalten soll, dass das AKW nicht militarisiert wird. Das ist mir bisher nicht gelungen, obwohl ich sehr hart daran arbeite. Was ich sagen kann, ist, dass es dort eine gewisse militärische Präsenz gibt, dass wir uns bemühen, zu verhindern, dass es dazu kommt; doch es ist völlig klar, dass diese Zone ein aktives Kriegsgebiet ist. Das macht auch die Anwesenheit von Militär und paramilitärischen Kräften so fließend und daher wollen wir eine vorhersagbarere Lage erreichen; das bedeutet eine gestärkte Rolle für unsere Mission vor Ort, um das überwachen zu können.

Wie groß sind die Chancen, dass Kiew und Moskau einer Entmilitarisierung des Geländes des AKW zustimmen? Sie waren bisher zweimal dort und haben sowohl Wolodymyr Selenskyj als auch Wladimir Putin getroffen.
Zu Beginn war die Idee, eine entmilitarisierte Zone anzustreben; doch in eine Lage andauernder Kämpfe, ist es utopisch, über eine derartige Zone zu sprechen; da wird kein militärischer Kommandant zustimmen, weil es sehr schwierig ist, eine derartige Zone zu definieren. Worum ich mich jetzt bei den Verhandlungen bemühe, ist, dass ich mich auf grundlegende Prinzipien, auf Verhaltensweisen, konzentriere: Beschießt das AKW nicht oder militarisiert es nicht - und wie man das umsetzen kann. Genau wegen der Gegenoffensive oder wegen der Verteidigung durch die russischen Besatzer bestehe ich so sehr darauf, dass wir eine Vereinbarung brauchen. Beiden Seiten sage ich, dass es nicht um militärische Vorteile geht, weil im Falle eines atomaren Zwischenfalls die radioaktive Strahlung nicht zwischen Uniformen und dem übrigen Europa unterscheiden wird. Ich hoffe, dass man auf mich hört, und ich bestehe gerade dieser Tage so massiv wie möglich darauf.

Interview: Christian Wehrschütz, ORF

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