„Krone“-Interview

Simply Red: „Wer zur Hölle bin ich eigentlich?“

Musik
25.05.2023 09:00

Wie wir alle stellte sich auch Simply-Red-Frontmann Mick Hucknall während der Pandemie existenzielle Fragen. In elf brandneuen Songs sucht er auf dem 13. Studioalbum „Time“ nach Antworten, die manchmal aber auch vom persönlichen in den weltlichen Kosmos reichen. Ein Gespräch über Rückschauen, den Weltraum und veränderte Lebensrealitäten.

Manche mögen in Mick Hucknall ein popmusikalisches Relikt aus längst vergangenen Tagen sehen, doch alte Besen kehren am besten, das hat der mittlerweile 62-Jährige erst Ende letzten Jahres in Österreich bewiesen. In der Wiener und Grazer Stadthalle gab er mit seiner hervorragend eingespielten Band Simply Red zwei fulminante Soul-Konzerte voller Top-Hits und guter Laune und bewies eindrucksvoll, dass gekonntes Entertainment kein Ablaufdatum hat. Still und heimlich arbeitete Hucknall in den letzten Jahren aber auch an einem weiteren Studiorundling. Nachdem das 2019er-Werk „Blue Eyed Soul“ noch eine Verbeugung vor Hucknalls Funk- und Soul-Heroen aus den 70er-Jahren war, ist „Time“ konzeptionell und auch musikalisch etwas breiter gefächert.

Sich auf sich selbst besinnen
Auch das mittlerweile 13. Studioalbum in der fast 40 Jahre andauernden Karriere der Band orientiert sich an Vergangenem, lässt aber vergleichsweise vermehrt Raum für R&B und klassischen Pop der eleganten Sorte. Im Endeffekt gilt für „Time“ aber wie auch für „Blue Eyed Soul“: in dieser Phase der Karriere wirkt jedes neue Werk wie eine Art Best-Of einer längst verdienten Kultband. „Ich wollte vor allem das Beste aus uns rausquetschen, das aufgrund der schwierigen Umstände möglich war“, erzählt uns Hucknall im „Krone“-Interview, „die Welt hat wegen Corona dichtgemacht und wie viele andere auch, habe ich mich auf mich besinnt und mir überlegt, wer ich bin und was ich eigentlich tue.“

Von einem 9-to-5-Job kann bei Hucknall freilich keine Rede sein, doch der agile Mittsechziger lernte die Zeit mit Partnerin und Kindern vermehrt zu schätzen, weil er drei Jahre lang festgenagelt zu Hause saß. „Andere Menschen wissen jetzt, dass zwei bis drei Tage im Büro ausreichen und ich weiß, dass ich problemlos viel Zeit zu Hause verbringen kann.“ Mit dem Song „Never Be Gone“ reist Hucknall weit zurück in die Vergangenheit und beruft sich auf die Frantic Elevators, seine erste Band, bevor Simply Red überhaupt ein Gedankenkonstrukt war. „Unser damaliger Drummer verstarb tragischerweise an Corona und bei seinem Begräbnis kam ich auf die Idee zu diesem Song. Er ist wie eine Grabrede. Ganz allgemein waren es die Erfahrungen und Gedanken der letzten Jahre, die mich zu den Geschichten führen und bei denen ich mich als Persönlichkeit selbst reflektiert habe.“

Liebeserklärung
Wichtig war Hucknall Vertrauen und Konsistenz. Langzeit-Produzent Andy Wright saß einmal mehr an den Reglern und die Livemusiker seiner Touringband genossen auch im Londoner Studio das Vertrauen des Bandchefs. Als erste Single-Auskoppelung überzeugte „Better With You“ schon letztes Jahr im Live-Set der Briten. Der Song ist eine Liebeserklärung an seine Frau Gabriella, die Hucknall Mitte der 90er-Jahre in seinen wilden Jahren kennenlernte und deren Liebe erst bei einem weiteren Treffen 2003 in Mailand gefestigt wurde. Mittlerweile haben sie eine gemeinsame Tochter. Überhaupt spielt „Time“ - nomen est omen - in vielerlei Hinsicht mit dem Begriff Zeit, der durch die Pandemie eine völlig neue Bedeutung bekam. „Gefühlt hatten wir plötzlich unendlich viel Zeit zur Verfügung, weil die Uhren fast stillstanden.“

Im Großen und Ganzen geht Hucknall auf „Time“ ganz weit zurück, bis zu seiner wenig glamourösen Kindheit. „Das Album spiegelt mein ganzes Leben wider. Als ich, ohne Mutter, im Nordwesten Englands aufwuchs, Stress mit meinem Vater bekam und an großen Geldsorgen litt. Ich liebte die Musik über alles und als der Punk nach Manchester kam, war es um mich geschehen. Ich musste in einer Band sein. Fünf Jahre lang hatte ich nicht einmal den Ansatz eines Erfolgs, doch dann stellte ich Simply Red zusammen und wenig später kannte man uns auf der ganzen Welt. Was für eine Veränderung! Ich hatte während der Pandemie das Gefühl, all das mit gehöriger Verspätung erst jetzt verarbeitet zu haben. Es war nun Zeit herauszufinden, wer zur Hölle ich überhaupt bin.“

Kampf gegen die Diktaturen
Obwohl sich das Album zu einem großen Teil um ihn selbst und sein Leben dreht, kann der politisch hochinteressierte Rotschopf nicht ganz hinterm Berg halten, wenn es um die Strömungen und Verwerfungen der Gegenwart geht. So findet man im Song „Too Long At The Fair“ etwa die Textzeile „democracy is wonderful“. „Wir leben in einer Zeit der großen Herausforderungen. Auf der ganzen Welt sind die Diktatoren wieder im Vormarsch und es scheint eine hässliche Art des Faschismus zu erwachen. Die Menschen verlieren ihre Diskursbereitschaft und wollen immer nur ihre Wahrheit hören. Social-Media-Kanäle sind perfekte Plattformen für Polemik und Oberflächlichkeiten. Sprüche wie ,make America great again‘ stoßen mir sauer auf. Amerika war längst groß, bevor Trump diesen Satz sagte. So eine Aussage ist eine reine Lüge und gegen solche Auswüchse müssen wir uns wehren.“ 

Einen interessanten Weg nahm auch der eingängige Song „Butterflies“. „Den habe ich eigentlich für meine gute Freundin Cyndi Lauper geschrieben“, so Hucknall, „das originale Arrangement hatte so ein 50s Rock’n’Roll-Feeling, wie man es von ,Grease‘ kennt. Sie hat dazu gesungen, mochte aber ihre Stimme nicht. Dann fanden wir irgendwie nie Zeit für ein Duett und mein Produzent Andy meinte, ich solle es eben selbst probieren. Jetzt ist der Song eher eine Hommage an meine Tochter und ihre Generation.“ Das Klima ist auch beim abschließenden „Earth In A Lonely Space“ ein Thema. „Dieses Lied wurde inspiriert von den Tech-Milliardären wie Elon Musk oder Richard Branson, die lieber ihre metallenen ,Satelliten-Penisse‘ ins All schießen, anstatt mit ihrem Geld unseren Planeten zu einem lebenswerteren Ort zu machen.“

Rettet den Planeten
Hucknall ist nicht nur bei romantischen Songs und seinem Fußball-Lieblingsverein Manchester United firm, sondern besitzt auch ein überbordendes Interesse an Astronomie. „Niemand braucht diese Reichen in ihren Raketen, die nur damit angeben, was sie mit Geld alles erreichen können. Außer dem Mars gibt es keinen Planeten, auf dem wir die Möglichkeit hätten, zu leben. Wozu also das Streben nach draußen? Die Botschaft des Songs ist eindeutig, dass wir uns schleunigst um unseren eigenen Planeten kümmern sollten.“ Auf „Time“ reflektiert Hucknall nicht nur seinen persönlichen, sondern auch den weltlichen Seelenzustand. All das verpackt er in bekömmlich-feine Songs, die beweisen, dass das Feuer bei Simply Red noch lange nicht erloschen ist.

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