Autor Robert Schneider trifft für seine Serie „Fremd daheim“ Menschen aus anderen Weltregionen, die sich in Vorarlberg niedergelassen haben. Diesmal erzählt ihm Christine Flatz die Geschichte ihrer Familie.
Die Suche nach Heimat, nach einem Platz, wo man willkommen ist und angekommen, durchzieht das gesamte Leben von Christine Flatz. Ihre deutschstämmigen Großeltern wurden aufgrund der Beneš-Dekrete aus der Slowakei vertrieben. „Man hat meiner Oma einen Brief geschrieben - das Dokument bewahre ich bis zum heutigen Tag auf -, wo drin stand, dass sie binnen 14 Tagen das Land verlassen müsse“, erzählt Frau Flatz. Ich spüre, dass diese Geschichte sie noch immer tief bewegt. „Meine Großeltern gelangten schließlich in ein kleines Dorf in Oberbayern - Mintraching -, wo man ihnen bei einem Bauern zwei Zimmer versprochen hatte.“
Robert Schneider: Waren die Großeltern allein?
Christine Flatz: Sie hatten fünf Kinder bei sich. Die Oma war gerade mit dem sechsten schwanger. Mit einem kleinen Leiterwagen, auf den sie etwas Hab und Gut gepackt hatten, gingen sie also zu dem Bauern hin. Der sagte, er nehme keine Familie mit fünf Kindern auf. Dann setzten sie sich neben dem Friedhof auf eine Bank und wussten nicht mehr, wie weiter. Die Leute im Dorf kamen zusammen und beratschlagten, wie man der Familie helfen könne. Im Schulhaus gab es eine Rumpelkammer. Die wurde hergerichtet. Zwei Stockbetten, ein kleiner Ofen. Dort lebte die Familie dann auf siebzehn Quadratmeter circa drei bis vier Jahre lang. Das Wasser mussten sie vom Bauern gegenüber holen. In der Zeit kamen noch einmal zwei Kinder hinzu. So schwer es die Großeltern auch hatten, sie haben nie gejammert. Nicht ein einziges Mal.
Sie selbst sind auch in diesem Dorf geboren?
Nein, geboren bin ich in München, aber die ersten drei Jahre habe ich in Mintraching verbracht. Mein Vater war bei der Post. Hat sich im klassischen Sinn emporgearbeitet bis zum Abteilungsleiter.
Auf der Rolltreppe beim Stachus habe ich meinen ersten Kuss bekommen. Die Rolltreppe gibt es heute noch. Das war vor fünfzig Jahren.
Cristine Flatz
Haben Sie noch Geschwister?
Ich habe noch drei Brüder. Einer ist fünfzehn Jahre jünger als ich. Wenn ich als Sechzehnjährige mit ihm an der Hand spazieren ging, haben sich die Leute nach uns umgedreht und sich gewundert, dass man so jung schon ein Kind haben kann. Das waren noch ganz andere Zeiten.
Was haben Sie gelernt?
Ich habe die Realschule gemacht und wollte Krankenschwester werden. Das wäre mein Traumberuf gewesen. Aber ich hätte noch zwei Jahre warten müssen, weil ich zu jung war. Da meinte mein Vater, ich könne doch nicht zwei Jahre lang nichts tun. Also sind wir zur Berufsberatung gegangen. Da ich in Mathe und Physik immer sehr gut war, also technisch veranlagt, ergab sich eine Stelle bei Siemens, wo man Elektro-Assistentinnen suchte. Ich absolvierte die zweijährige Ausbildung, ja und bei Siemens habe ich den Werner, meinen Mann aus Vorarlberg kennengelernt. Er war dort Elektrotechniker.
Der lief Ihnen dort buchstäblich über den Weg?
So ungefähr. Wir begegneten einander auf dem Gang. Er hielt mir die Tür auf. Wir sind noch drei Stockwerke mit dem Aufzug gefahren. So ein Kavalier, dachte ich. Und hübsch sieht er auch aus. Ja und einige Monate später gingen wir gemeinsam in der Stadt Mittagessen. Er fragte mich, ob wir am Abend noch ins Kino gehen. Ich musste zuerst daheim anrufen. Mein Papa sagte: „Du kommst sofort heim!“ Ich war damals achtzehn. Auf der Rolltreppe beim Stachus habe ich meinen ersten Kuss bekommen. Die Rolltreppe gibt es heute noch. Das war vor fünfzig Jahren. Er war mein Märchenprinz. Später stand er dann eines Tages mit Blumen vor der Tür und hat bei meinem Vater um meine Hand angehalten. Mich hat er nicht gefragt, aber den Vater. So bin ich zuerst nach Wolfurt gekommen. Wir lebten in einer kleinen Wohnung ohne Bad und Heizung. Das Bad, das uns versprochen wurde, haben sie nie gebaut. Da haben wir zwei Jahre lang gewohnt.
Wo haben Sie in der Zeit gearbeitet?
Ich konnte Schaltungen löten. Das hatte ich bei Siemens gelernt. Durch Zufall erhielt ich eine Anstellung bei der Orgelbaufirma Rieger. Weil ich eben löten konnte. Also habe ich Orgelpfeifen gelötet.
Hat man Sie wohlwollend aufgenommen?
Die Familie meines Mannes sehr. Aber in der Firma wurde ich ausgelacht, weil ich breitestes Bairisch gesprochen habe. Ich sagte irgendeinen Begriff, und man hat gelacht. Vor Scham habe ich halt mitgelacht. Die haben es bestimmt nicht böse gemeint. Aber es war auf die Dauer verletzend. Darum versuchte ich, Hochdeutsch zu sprechen. Aber das konnte ich nicht. So habe ich eben den Vorarlberger Dialekt gelernt. Dann hatte ich ganz am Anfang auch Probleme mit dem Geld. Schilling und D-Mark. Ich bin oft mit 1000 Schilling einkaufen gegangen, weil ich dachte, das Geld reicht nicht. Die ersten zwei Jahre in Vorarlberg war ich sehr traurig. Wäre ich nicht verheiratet gewesen, ich wäre wieder zurück nach Bayern gegangen. Ich habe mich am Anfang oft übersehen, ignoriert, nicht gefragt gefühlt. Erst durch unsere Kinder habe ich angefangen, mich hier wohl zu fühlen. Und durch den Kirchenchor in Schwarzach. Da waren so viele liebe Menschen, die mir geholfen, mich angenommen haben. Mit denen bin ich heute noch befreundet.
Sind Sie in all den Jahren hier heimisch geworden?
Ich erinnere mich gut, als ich mit meinem ersten Kind schwanger war. Ich war so glücklich, dass ich die ganze Welt hätte umarmen können. Gleichzeitig wusste ich, dass ich mich jetzt entscheiden muss. Das ist jetzt deine Heimat, weil es nämlich die Heimat deines Kindes sein wird. Da musst du jetzt bleiben.
Also eine Entscheidung vom Kopf her?
Es ist meine zweite Heimat. Dennoch bin ich glücklich, dass es eine so schöne zweite Heimat ist. Aber es sind eben zwei Heimaten in meinem Herzen. Außerdem bin ich immer noch in gutem Kontakt zu meinen drei Brüdern, zu meinen Schwägerinnen, zu meinen Tanten und Onkeln und zu meiner besten Freundin in München, die mich alle durch mein Leben begleiten. Aber das Allerwichtigste ist mir meine Familie.
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