Potenzielle „Gefährder“ werden immer jünger. Das zeigt auch der vereitelte Anschlag auf die Wiener Regenbogenparade. Die Radikalisierung findet im digitalen Raum statt - und Ermittler stoßen immer häufiger an ihre (rechtlichen) Grenzen.
Ein erst 14-jähriger Schüler sitzt mit seinem Freund (17) in U-Haft. Dessen älterer Bruder (20) wurde - wie berichtet - noch am Sonntag wieder freigelassen. Auch wenn alle drei (allesamt österreichische Staatsbürger) kurz vor Beginn der Regenbogenparade von Staatsschützern aus dem Verkehr gezogen wurden, weil sie gemeinsam ein Attentat auf die bunte Veranstaltung geplant gehabt haben sollen. „Es herrschte Gefahr im Verzug“ – wie es offiziell heißt.
Dass ausgerechnet der Älteste des Trios, in dem viele den Drahtzieher vermutet hatten, auf freien Fuß gesetzt wurde, überraschte. „In seinem Fall sah man keinen dringenden Tatverdacht“, wie Leopold Bien von der Staatsanwaltschaft St. Pölten erklärt.
Wenn Kinder zum Staatsproblem werden
Was bedeutet: Die Gefahr geht offenbar von den beiden minderjährigen Verdächtigen aus. Dem in Wien lebenden 14-jährigen Teenager mit tschetschenischen und dem in St. Pölten lebenden 17-Jährigen mit bosnischen Wurzeln. Was alle, nur nicht die Ermittler, schockiert.
„Laut unseren Beobachtungen werden mittlerweile fast 80 Prozent der Jugendlichen über das Internet radikalisiert. Egal, ob von islamistischer oder rechtsradikaler Seite“, weiß Terrorexperte Nicolas Stockhammer.
Einschätzungen, die Lisa Fellhofer, Direktorin der Dokumentationsstelle Politischer Islam, bestätigt: „Vor allem über TikTok werden Jugendliche oft unbewusst mit islamistischem Gedankengut konfrontiert. Manche Videos mit entsprechenden Inhalten erzielen über 1 Mio. Aufrufe.“
Früher haben Islamisten Jugendliche in Hinterhof-Moscheen geködert. Jetzt läuft die Gehirnwäsche über das Internet.
Szenekundiger Fahnder
Vom Deradikalisierungsverein Derad heißt es am Montag, bei einer Radikalisierung im Netz handle es sich um kein neues Phänomen: „Das passiert bereits seit rund 30 Jahren. Es haben sich nur die Plattformen geändert.“ Man betreue regelmäßig „sehr junge Klientinnen und Klienten“. Laut Derad befinden sich aktuell allein in Wien rund 50 islamistische Gefährder. „Jeder von ihnen ist potenziell in der Lage, einen Anschlag zu verüben“, warnte die NGO.
DNS fordert Abhörung von potenziellen Extremisten
Und ein szenekundiger Fahnder bringt es auf den Punkt: „Früher haben Islamisten Jugendliche in Hinterhof-Moscheen geködert. Jetzt läuft die Gehirnwäsche über das Internet.“ Weswegen der Leiter der Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst Omar Haijawi-Pirchner nicht zum ersten Mal von der Justiz erweiterte Befugnisse zur Abhörung potenzieller Extremisten fordert: „Mittlerweile passiert die Kommunikation auch über Spielkonsolen und deren Chatfunktionen. Und hier haben wir rechtlich leider keine Überwachungsmöglichkeit.“
Auch der Extremismusforscher Peter R. Neumann weist darauf hin, dass das Alter der mutmaßlichen Täter nicht mehr überraschen darf. „Damals, während der Hochphase des IS, war das typische Profil eines Islamisten: männlich, zwischen 18 und 25 Jahre“, erläutert der Professor für Security Studies am Londoner Kings College.
„Das ist jedoch etwas, das heutzutage nicht mehr gilt“, meint der Experte. Die „demografische Spannweite“ habe sich verändert. „Wir sehen heute auch Zwölfjährige als Extremisten, genauso wie das auch in der anderen Richtung möglich ist. Das Bild ist etwas diverser geworden“, sagt Neumann.
Experte: TikTok tut zu wenig gegen Terror
Neumann hebt hervor, dass die Radikalisierungstendenzen weltweit jedoch grundsätzlich eher abnehmen würden. „Es gibt heute vergleichsweise viel weniger Radikalisierung“, so der Experte, „weil die Netzwerke zerschlagen worden sind und es bestimmte radikale Moscheen nicht mehr in dem Ausmaß gibt, als das früher der Fall war.“ Im Rekrutierungsprozess hätte die chinesische App TikTok jedoch enorm an Bedeutung gewonnen.
Der Experte übte in diesem Zusammenhang Kritik an der App. So habe TikTok noch nicht ausreichend gegen solche Tendenzen getan. „Solche Plattformen wachsen relativ schnell und bauen erst unter politischem Druck entsprechende Kapazitäten auf.“ Im aktuellen Fall läuft die Auswertung der Datenträger und Handys der verdächtigen Jugendlichen jedenfalls noch auf Hochtouren.
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